Internet-Videokommunikation ist heute als elektronische Kommunikationsform allgemein akzeptiert und wird zukünftig von der Mandantschaft vom Anwaltsbüro als Dienstleistung erwartet. Das gleiche gilt für den Homeoffice-Arbeitsplatz, der als Teilzeit- oder Bedarfs-Option vom modernen Arbeitgeber erwartet wird.
Zur Standard-Ausstattung der Digitalen Kanzlei gehört künftig der Zugang zu einem Video-Kommunikationssystem mit Video-Equipment; zu den anwaltlichen Kompetenzen kommt die Beherrschung der Video-Kommunikation hinzu.
Die Kommunikation mit verbreiteten einfachen kostenlosen Video-Lösungen läuft i. d. R. (oft unverschlüsselt) über ausländische (i. d. R. amerikanische) Server; hier stellt sich das gleiche Sicherheits- und Rechtmäßigkeits-Problem wie bei der Kanzlei-Datenspeicherung in der Public Cloud. Der Betrieb eines eigenen Videoservers ist sehr aufwändig und benötigt eine Administration.
Die empfehlenswerte sichere Methode für die Anwaltschaft sind Peer-to-Peer-Videosysteme, die den Bild- und Ton-Datenstrom nicht über fremde Server mit Ausspähungsgefahr leiten, sondern direkt zwischen den Endgeräten der Benutzer abwickeln.
Wenn das reale Anwaltsbüro zur Option wird
Findet das arbeitsteilige produktive Zusammenwirken der Büroangehörigen überwiegend oder ausschließlich örtlich verteilt via Videokommunikation in deren Homeoffices statt, entsteht eine neue organisatorische Figur: das Virtuelle Büro.
Das Digitale Anwaltsbüro der Zukunft wird ein Virtuelles Büro sein. Eine Büroorganisation, die sich von allen realen Dingen wie Büros, Warte-, Sprech- und Meeting-Räumen sowie Büroeinrichtung, Büromaschinen, Pappe und Papier (Bücher, Akten) getrennt hat – also von allem, was wir bisher in dinglicher Gesamtheit als „Anwaltsbüro“ ansehen.
Ein Virtuelles Büro bedeutet nicht, dass man keine Büroräume unterhalten soll oder darf, z. B. für die Mitarbeiter, die keine geeignete räumliche Situation für Homeoffice haben, als Besprechungsraum, oder auch als Ort für den eigenen Kanzleiserver. Das reale Anwaltsbüro wird zur bloßen Option für das Virtuelle Büro.
Das Virtuelle Büro manifestiert sich im Idealfall in der Realität in den Endgeräten der Kanzleiangehörigen: PC, Laptop, Tablet, Smartphone. Die Gesamtheit der Benutzer-Endgeräte im Internet verbunden, produktiv und sicher organisiert durch eine Software ist das Virtuelle Büro. Die Angehörigen des Virtuellen Büros kommunizieren ortsunabhängig mit Audio/Video, Bildschirmfreigaben und Datenaustausch im arbeitsteiligen Zusammenwirken.
In einem Virtuellen Büro ist das episodische Videogespräch jedoch kein ausreichender Ersatz für das produktive, effiziente arbeitsteilige Zusammenwirken des realen Anwaltsbüros. Das Problem des Virtuellen Büros ist die Vereinzelung, wenn jeder für sich im Homeoffice arbeitet und alle Personen sich nur gelegentlich per Video sehen und sprechen.
Wie soll die Organisation, die Überwachung, die dauerhafte Sicherstellung der Produktivität funktionieren? Ein Virtuelles Büro benötigt für Produktivität, Effizienz und Qualität zwingend eine für alle Teilnehmer permanent visuell erfahrbare Organisations- und Kommunikationsstruktur als Grundlage der täglichen Arbeit, und eine weitere für die Leitung transparenter Anwesenheit und Aktivität. Eine realitätsnahe Arbeits-Atmosphäre sollte durch grafische Elemente, wie insbesonders bildliche Darstellung der Büromitarbeiter geschaffen werden.
Die Zeichen der Zeit sicher umsetzen
Diese Organisationsaufgabe leistet eine neue Generation von Büroorganisations-Software für Virtuelle Büros. Ein Virtuelles Büro lässt sich entweder als zentrale Lösung durch Internet-Server eines Dienstanbieters realisieren, über den die Kommunikation und Speicherung bürointern versandter Dateien und Nachrichten läuft, oder als dezentrale Lösung auf Basis von peer-to-peer-Direkt-Kommunikation zwischen den Benutzer-Endgeräten.
Eine zentrale Serverlösung, die die interne und externe Kommunikation vieler Anwaltsbüros abwickelt, ist ein offensichtliches Ziel für Ausspähung, so dass sich das wohl kaum breit durchsetzen wird. Die Methode der Wahl im Anwaltsbereich ist die dezentrale peer-to-peer-Lösung.
Das Virtuelle Anwaltsbüro benötigt wie ein reales Büro einen zentralen Datenbestand und übliche Kanzlei-Organisationsoftware. Diese stehen den Angehörigen des Virtuellen Büros für den Zugriff mit deren Endgeräten als Cloud Lösung ortsunabhängig zur Verfügung, als Private Cloud Lösung auf einem eigenen Server (zuhause, in einem Büroraum, in einem Housing Center oder in einem Rechenzentrum) oder als Public Cloud Lösung auf fremden Servern.
Die Cloud und das Virtuelle Büro sind Grundlagen des Digitalen Anwaltsbüros der Zukunft. Aber diese Transformation wird nur erfolgreich gelingen, wenn Justiz und juristische Verlage die Zeichen der Zeit, der „Neuen Normalität“ jetzt inmitten der Coronakrise erkennen, und ihrerseits die Transformation zu voll digitalisierter Organisations- und Erscheinungsform jetzt entschlossen durchführen.
Über den Autor:
RA Dr. Peter Becker
Software-Architekt und -Designer
der RA-MICRO Kanzleisoftware