
§ 404 Abs. 3 der Zivilprozessordnung besagt, dass wenn für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt sind, so sollen andere Personen nur dann gewählt werden, wenn besondere Umstände es erfordern. Von dieser Sollvorschrift kann ein Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen abweichen, sei es, dass diesem eine Person mit besonderer Sachkunde auf einem ganz bestimmten Spezialgebiet bekannt ist, die aber nicht öffentlich bestellt ist, oder aber diejenigen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen, die in der Lage wären, das vom Gericht dringend benötigte Gutachten zu erstatten, dieses nicht in der dafür zur Verfügung stehenden Zeit fertigen können.
Der letztgenannte Fall sollte die Ausnahme bleiben, er könnte aber in absehbarer Zeit zur Regel werden. Die Ursache dafür liegt nicht in einer gestiegenen Zahl gerichtlicher Auseinandersetzungen oder einer steigenden Zahl von Gerichtsgutachten. Sie liegt vielmehr darin, dass die bundesweite Anzahl an öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen deutlich abgenommen hat und weiterhin rückläufig ist. Waren im letzten Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende von den Industrie- und Handelskammern sowie Handwerksammern in etwa gleichen Größenordnungen insgesamt etwa 15.000 Sachverständige auf etwa 350 unterschiedlichen Sachgebieten öffentlich bestellt und vereidigt, so hat sich diese seit dem um rund ein Drittel verringert. Waren beispielsweise laut einer Erhebung des Instituts für Sachverständigenwesen – IfS im Jahr 2017 bundesweit 1.250 Sachverständige für die Immobilienbewertung öffentlich bestellt und vereidigt, so ist diese Zahl bis 2023 auf etwas über 1.000 zurückgegangen. Auf nahezu allen Sachgebieten schreitet diese rückläufige Tendenz weiter voran. Die Anzahl der Anträge auf eine Erstbestellung zum Sachverständigen hat sich nach Einschätzung des Bundesverbandes öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger – BVS e.V. im Vergleich zur Jahrtausendwende halbiert; eine Umkehr dieses Trends ist nicht in Sicht.
Die weiterhin in allen Bundesländern von den Landwirtschaftskammern öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen sowie die von den Architekten- und Ingenieurkammern, die nicht in allen aber etlichen Bundesländern ebenfalls über das Recht zur Sachverständigenbestellung verfügen, bestellten Sachverständigen unterliegen einer, was die Bestellungszahlen anbetrifft, vergleichbaren Tendenz.
Besorgniserregend ist auch die sich nach oben entwickelnde Altersstruktur der öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen. Eine entsprechende Untersuchung des IfS aus dem Jahre 2018 wies bereits einen Altersdurchschnitt von 59 Jahren auf. Es ist davon auszugehen, dass dieser Altersdurchschnitt mittlerweile über 60 Jahren liegt, was durch entsprechende Erhebungen des BVS bestätigt wird.
In einer vor rund 10 Jahren von einzelnen Oberlandesgerichten durchgeführten Studie wurde bereits beklagt, dass die Verfahrenslaufzeiten von Rechtstreitigkeiten, bei denen zur Entscheidungsfindung Sachverständigengutachten erforderlich sind, zu lang sein würden. Zwar wurde in dieser Studie keine Differenzierung zwischen öffentlich bestellten und vereidigten Gerichtssachverständigen einerseits und nicht bestellten andererseits gemacht. Auch wurde nur bedingt auf die Ursachen der als zu lang erachteten Verfahren mit Sachverständigenbeteiligung eingegangen, die vielfach auch prozesstaktische Hintergründe haben können, die es Gerichtssachverständigen erschweren oder in Einzelfällen sogar unmöglich machen, das vom Gericht benötigte Gutachten in der vorgegebenen Zeit oder überhaupt zu erstatten.
Nicht ohne Grund verweist § 404 Abs. 3 ZPO darauf, dass für die gerichtliche Gutachtenerstattung öffentliche bestellte und vereidigte Sachverständige bevorzugt herangezogen werden sollen. Weder die Ausbildung zum Sachverständigen, noch die Ausübung dieses Berufes unterliegen in Deutschland gesetzlichen Regelungen. Es kann sich also jeder und jede im Sinne des Wortes von heute auf morgen als Sachverständige, Gutachter oder Experte bezeichnen und diese Berufstätigkeit ausüben. Allein die Öffentliche Bestellung und Vereidigung von Sachverständigen stellt aus der Sicht des Gesetzgebers ein allgemein verbindliches Kriterium dar, mit dem sicher gestellt werden soll, dass die Justiz bei der Rechtsfindung auf Sachverständige zurückgreifen kann, die von unabhängiger Seite auf weit überdurchschnittliche besondere Sachkunde, wirtschaftliche und persönliche Unabhängigkeit sowie charakterliche Eignung überprüft wurden und während der Bestellungszeit einer regelmäßigen Überwachung unterliegen. Dieses gilt selbstverständlich auch in vergleichbarer Weise für die bestehenden anderweitigen hoheitlichen Beleihungen von Sachverständigen, in der Regel auf gesetzlichen Grundlagen, wie staatlichen Anerkennungen oder amtlichen Zulassungen basierend, beispielsweise baurechtlicher Art. Nicht unerwähnt bleiben sollen hier auch Sachverständigenzertifizierungen, die allerdings auch keiner umfassenden gesetzlichen Regelung unterliegen und deren Spanne von Zertifizierungen durch akkreditierte Zertifizierungsstellen bis zu Zertifizierung fragwürdigster Art im Inland wie europäischem Ausland reicht.
Damit die deutsche Justiz auch in Zukunft auf eine ausreichende Anzahl fachlich hochqualifizierter, persönlich und wirtschaftlich unabhängiger Sachverständiger mit der für diesen Beruf erforderlichen charakterlichen Eignung zurückgreifen kann, ist daher dringender Handlungsbedarf gegeben. Bereits jetzt zeigen Mitgliederbefragungen des BVS, dass die Anzahl der gerichtlichen Gutachtenaufträge bei den einzelnen Sachverständigen erkennbar angestiegen ist und sich damit deren Bearbeitungsdauer nachvollziehbar nach hinten verlängert. Wartezeiten seitens der Gerichte auf Gutachten durch von ihnen zu deren Erstattung herangezogene öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige von einem Jahr und länger sind heute keine Seltenheit mehr und könnten bei weiterer Rückläufigkeit der Anzahl dieser Sachverständigengruppe zur Regel werden. Auch die im Jahre 2016 mit der Einführung des § 407a ZPO eingeführte Regelung, dass den Gerichtsachverständigen eine Bearbeitungsfrist für Gutachten vorzugeben ist und bei deren Überschreitung ohne beantragte Fristverlängerung eine Verdreifachung des bis dato geltenden Ordnungsgeldes droht, kann einen gewissenhaft und ordentlich arbeitenden, mit Gerichtsaufträgen überlasteten öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen nicht dazu befähigen, die von ihm mit Sorgfalt zu erstellenden Gerichtsgutachten zügiger zu erstatten.
Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige sind durch ihre Bestellung verpflichtet, Gerichtsgutachtenaufträge zu übernehmen. Unter wirtschaftlicher Betrachtungsweise kann dieser Verpflichtung jedoch nur im Rahmen einer entsprechenden Mischkalkulation mit deutlich besser honorierten Privataufträgen nachgekommen werden. Hier ist es am Gesetzgeber, die Vergütung der gerichtlichen Sachverständigentätigkeit entsprechend attraktiv zu gestalten. Die im Bereich der wirtschaftlichen Selbstverwaltung den Kammern der Wirtschaft, des Handwerks und einzelner Berufsgruppen übertragene Aufgabe der Sachverständigenbestellung und laufenden Überwachung sollte von Seiten der Landesgesetzgeber mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung bei der Erfüllung dieser ihnen übertragenen wichtigen Aufgabe zukommen.
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Hinweis zum Autor:
Wolfgang Jacobs
ist Rechtsanwalt, Geschäftsführer des Bundesverbandes öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger – BVS e.V
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