Häufige Strafverteidiger-Frage: "Wie können Sie nur so jemanden verteidigen?"

Von Wolfgang Stahl. Er ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Koblenz. Er ist bundesweit auch in Aufsehen erregenden Fällen als Strafverteidiger tätig.

Sehr häufig, wenn ich auf fremde Menschen getroffen bin, auf Veranstaltungen, Feiern oder bei ähnlichen Gelegenheiten, hat – wenn zur Sprache kam, womit die Anwesenden ihren Lebensunterhalt verdienen – irgendjemand diese Frage gestellt: «Wie können Sie nur so jemanden verteidigen, wenn Sie wissen, dass er es war?» Und: «Wie vereinbaren Sie das eigentlich mit Ihrem Gewissen?»

Meist geht die Frage mit der allgemeinen Feststellung einher: «Also ich könnte das ja nicht.» Und es werden regelmäßig Fallbeispiele aus dem Bereich des Sexualstrafrechts, insbesondere der Kinderpornographie und des Kapitalstrafrechts gebildet oder die aktuelle Presseberichterstattung zu «spektakulären» Strafverfahren zur Erörterung der ethisch­ moralischen Grundhaltung des Strafverteidigers herangezogen.

Diese Thematik wurde zumeist unter den Überschriften «Rechtsstaat» und «Unschuldsvermutung» bereits vielfach in der Literatur von und über Rechtsanwälte/n behandelt. Ich will deshalb einen etwas unorthodoxen Versuch unternehmen, um Ihnen, die Sie alle schon oder bald «Kollegen» sind, meinen Ansatz einer Antwort zu diesen durchaus nachvollziehbaren Fragen nahezubringen und bei Ihnen damit vielleicht auch das Interesse an der Verteidigung in Strafsachen zu wecken:

Vor etlichen Jahren, zu einem Zeitpunkt, als ich bereits ausschließlich als Strafverteidiger tätig war, ging ich eines Abends zu einem Geburtstagsumtrunk eines Schulfreundes eines Kollegen. Der Schulfreund des Kollegen war mittlerweile Richter und so fanden sich unter den Gästen der kleinen Party in einem Irish Pub in der Vorstadt natürlich auch einige Richterinnen und Richter, mit denen ich im Verlauf des Abends ins Gespräch kam.

Als Strafverteidiger "geoutet"

Mit einer jungen Assessorin, die mich nicht näher kannte und die – was ich aber wusste – Beisitzerin am Schwurgericht war, unterhielt ich mich einige Zeit und – erstaunlicherweise – stellte auch sie mir plötzlich die Frage, wie ich denn jemanden verteidigen könne, von dem ich wüsste, dass er es gewesen ist. Zwar ist man schon kurze Zeit, nachdem man sich im Freundes­ und Bekanntenkreis als Strafverteidiger «geoutet» hat, daran gewöhnt, dass Menschen, die nicht näher mit der Justiz zu tun haben, diese und ähnliche Fragen stellen. Freunde und Bekannte, die als Ingenieure, Kellner, Ärzte oder Dachdecker arbeiten, mögen sich derartige Fragen auch stellen, wenn sie mit dem Beruf des Strafverteidigers konfrontiert werden.

Dass aber eine Richterin, also eine Juristin, die vermutlich zwei überdurchschnittlich gute Staatsexamina absolviert hat, und zu deren Aufgaben es zählt, als unabhängiges Mitglied eines Kollegialgerichts über die Zulässigkeit der Erhebung einer öffentlichen Klage vor eine große Strafkammer – als Schwurgericht – zu entscheiden und später einen Angeklagten zu verurteilen oder von den Vorwürfen der Anklage freizusprechen, einem Strafverteidiger eine der artige Frage stellt, hat mich damals erstaunt und erstaunt mich bis heute.

Wer ist der Schweinehund?

Ich erinnere noch, dass ich zunächst versuchte, zu hinterfragen, was sie unter dem Wissen, dass ein Mandant eine ihm vorgeworfene Tat begangen habe, denn verstehe. Schließlich diene die gerichtliche Untersuchung doch gerade der Klärung der Frage, ob eine beschuldigte Person die angeklagte Tat begangen hat (§ 155 StPO). «Nein, nein», wurde eingewendet. Das sei nicht gemeint. Heute frage ich mich, ob das, was nicht gemeint war, nämlich die Klärung der Schuldfrage in einem rechtsstaatlich förmlich ablaufenden gerichtlichen Hauptverfahren anhand prozessordnungsgemäß erhobener und vollgültiger Beweismittel, in den Augen meines damaligen Gegenübers eine Art Glasperlenspiel ist. In Wirklichkeit wissen Staatsanwälte und Richter möglicherweise aufgrund ihrer Berufserfahrung und dem geschäftsmäßig routinierten Umgang mit vielen Fällen schon beim Handauflegen auf den Aktendeckel, wer der Schweinehund ist. «Nein, nein», schallte es mir also entgegen und die selbstbewusste junge Richterin erklärte mir, dass sie diejenigen Situationen meine, in denen nicht nur anhand der Akte klar sei, dass es der Mandant gewesen sei, sondern der Mandant vorher auch gesagt habe, dass er die Tat begangen habe. 

Ja, möchte man sofort einwenden, rote Akten, Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft, die nach Abschluss des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens zusammen mit der Anklage dem zur Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens berufenen Gericht übersendet werden, lassen doch stets sofort klar erkennen, wer der Täter gewesen ist, der am Ende angeklagt wird. Es steht bereits der Name des Angeschuldigten mittels eines kleinen Aufklebers als Name des Beschuldigten auf dem Aktendeckel und der vermeintliche Nachweis der Schuld zieht sich wie ein roter Faden durch die Akte, an deren Ende eine schlüssig klingende Anklage steht. Aber es ging der Richterin nun um diejenigen Fälle, bei denen ihr Verständnis für die Bereitschaft, jemanden zu verteidigen, offenbar eingeschränkt ist, in denen der Mandant seinem Verteidiger erklärt hat, er habe tatsächlich die ihm vorgeworfene Straftat begangen. 

Gut. Zugegeben. Auch solche Fälle gibt es. Erstaunlich aber, dass eine Berufsrichterin eine dem Rechtsstaat derart fremde Haltung mit einer Differenzierung zum Ausdruck bringt, dass Strafverteidigung bei «wirklichen Tätern», Angeklagten, die aus Sicht aller Umstehenden ganz sicher verurteilt werden, in irgendeiner Weise fraglich ist. «Wie kann man denn …?»

Unbeleuchtet bleiben – dies nur am Rande – nicht wenige Fälle, in denen Mandanten ihrem Verteidiger erklären – sei es, dass sie die Schuld für einen nahen Angehörigen oder jemanden, der eine offene Bewährung hat, auf sich  nehmen wollen, sei es, dass sie in irgendeiner Art und Weise unter Druck gesetzt werden, weil sie einer Clique, einem Freundeskreis, einer Organisation an gehören oder  nahestehen, die solche Erwartungen an sie stellt –, dass sie es gewesen sind, die die angeklagte oder angeschuldigte Tat begangen haben. Weiß der Verteidiger – möchte man einwenden –, dass der Mandant in derartigen Fällen schuldig ist, auch wenn er noch so beharrlich behauptet, er habe die Tat begangen?

Ist Strafverteidigung manchmal zweifelhaft?

Wenn also vermeintlich klar ist, dass einem Angeklagten in einer gerichtlichen Hauptverhandlung zur Überzeugung des erkennenden Gerichts nachgewiesen werden wird, dass er eine Straftat begangen hat, ist Verteidigung in solchen Fällen zweifelhaft? Ist sie nicht gerade dann umso notwendiger, oder in Anlehnung an Gerhard Strate formuliert: Ist es nicht gerade in einer solchen Situation nur noch der Verteidiger, der Vertrauen schenkt, wo es jeder verweigert; Mitgefühl entfaltet, wo die Gefühle erstorben sind; Zweifel sät, wo sie keiner mehr hat; und Hoffnung pflanzt, wo sie längst verflogen war? 

All meine Ansätze zu erklären, weswegen ich der Überzeugung bin, dass man auch die noch so eindeutig erscheinenden Ergebnisse von Ermittlungen kritisch betrachten muss, weil zum Beispiel neutrale Zeugen, die behaupten, sie hätten einen bestimmten Vorgang genau gesehen, sich bei näherer Prüfung als Knallzeugen herausstellen, die nur gehört haben, was sich unstreitig ereignet hat,  fehlende Wahrnehmungen aber aus Erfahrungen und plausiblen Vorstellungen zur Realität werden lassen, oder weil Zeugen sogenannten false memories erliegen können, konnten mein Gegenüber nicht von ihrer Meinung abbringen, dass es Fälle gibt, in denen nichts zu verteidigen ist. Sie kam dann noch kurz darauf zu sprechen, dass sie in solchen Fällen – die doch ganz klar seien – als Richterin nicht verstehen würde, was das ganze Theater solle, das manche Verteidiger dann dennoch in der Hauptverhandlung veranstalten. Gemeint waren offenbar Beweisanträge, Verteidigererklärungen, Beanstandungen oder die Anbringung von Ablehnungsgesuchen. 

Ich habe den Verlauf dieser Unterhaltung nicht mehr vollständig in Erinnerung, werde aber nie vergessen, wie die Unterhaltung endete. Nachdem mir klar war, dass ich diese Richterin und Angehörige eines Schwurgerichts mit meiner  Argumentation nicht würde überzeugen können, wandte ich ein, dass man sich zumindest auf die Unschuldsvermutung einigen könne, es gelte doch immer noch die Unschuldsvermutung, bis ein Angeklagter rechtskräftig verurteilt sei. Die Antwort war niederschmetternd: «Also es gibt schon Fälle, da sind mir zwei Unschuldige im Knast lieber als ein wahrer Schuldiger, der draußen frei  rumläuft.»

Der lange Zeit in Vergessenheit geratene berühmte Berliner Strafverteidiger Prof. Dr. Max Alsberg hat in seinem 1930, drei Jahre vor seinem selbst gewählten Tod, erschienenen Werk «Die Philosophie der Verteidigung» den Satz geprägt: «Den hochgemuten, voreiligen Griff nach der Wahrheit hemmen will der Kritizismus des Verteidigers!»

Die Ohnmacht des Beschuldigten

Wer einmal – nicht selten widerfährt dies auch Strafverteidigern im Laufe ihres Berufslebens – Beschuldigter in einem Strafverfahren war und aus eigener Wahrnehmung erfahren hat, mit welcher Macht die Strafverfolgungsbehörden und die Justiz eine zunächst vorläufige, im Raum stehende Hypothese verfolgen und wie ohnmächtig man als Beschuldigter dem gegenübersteht, weiß zu schätzen, wenn ihm in einer solchen Situation ein erfahrener und besonnener Strafverteidiger zur Seite steht. Durchsuchungen, Beschlagnahme, Arrestanordnungen bis hin zum Vollzug der Untersuchungshaft: Die Macht des Staates gegenüber einem Beschuldigten ist gewaltig und an nicht wenigen Stellen in der Justiz finden sich Menschen, die – durch welche Einflüsse auch immer: mit den Jahren eintretendem Berufszynismus oder einfach aufgrund der großen Zahl von beruflich erlebter  Delinquenz – einen kritischen und vorsichtigen Umgang mit Beschuldigungen abgelegt haben und meinen, sie wüssten schon, was richtig und was falsch ist. 

Solche Menschen können – wie die beispielhaft geschilderte Unterhaltung mit meiner Gesprächspartnerin zeigt – leider auch an Schaltstellen der Justiz tätig sein, die ganze Existenzen zerstören können. Auch wenn es nahezu ausgeschlossen sein dürfte, dass ein Strafrichter morgens aufsteht und sich sagt, heute verurteile ich mal jemanden zu Unrecht, gibt es sie, die Richter, die voreilig und hochgemut nach der Wahrheit greifen und – was das Schlimmste daran ist – davon überzeugt sind, dass sie die Wahrheit schon erkannt haben und den Richtigen nun verurteilen werden.

Es gibt daher kaum etwas Erfüllenderes, als einem Menschen, der in den Sog eines Strafverfahrens geraten ist und womöglich sogar in Untersuchungshaft genommen wurde, mit kritischer und unnachgiebiger Verteidigung der Vermutung der Unschuld geholfen zu haben. Dass Strafverteidigung bei alledem eine Aufgabe mit Verfassungsrang ist, ohne deren Existenz jedem Urteil die rechtstaatliche Legitimation fehlte, ist am Ende dann fast sekundär für die Motivation, den Beruf des Strafverteidigers zu ergreifen.

Dieser Text stammt aus dem "Beck'schen Referendarführer 2017/2018". Hier können Sie den Referendarführer kostenlos bestellen, hier können Sie ihn herunterladen.

Beck'scher Referendarführer 2017/2018