Nicht erschrecken bei ­Gericht – die digitale Zukunft der Gerichte naht

Von Prof. Dr. Ralf Köbler

Liebe Referendarinnen und Referendare, ich hoffe, Sie sind von Ihrer Zivilstation nicht vollständig verschreckt oder abgeschreckt: Vollgestopfte Aktenregale, Aktenberge  allenthalben und die beliebten »Gürteltiere« mit zahlreichen Aktenbänden prägen das Bild der Zivilabteilungen der Gerichte, allen voran der Landgerichte.

Würde man sich die Computer als komfortable Schreibmaschinen mit Spracherkennung für die Diktierer und als Zugang zu den unentbehrlich gewordenen digitalen Fachinformationen wegdenken: Man wähnte sich im 19.Jahrhundert. Dies umso mehr, als gewiss viele Referendarinnen und Referendare Ausbilder bzw. Ausbilderinnen erlebt haben könnten, die ihre Verfügungen in unleserlicher Handschrift wie eh und je in die Akten schreiben, als würde dies den überlasteten Geschäftsablauf irgendwie unterstützen und nicht noch mehr behindern.

Und auch sonst sind die Akten der Gerichte bei Licht betrachtet keine organisatorische Meisterleistung: Eingehende Dokumente werden chronologisch abgeheftet, um die Vollständigkeit der Akte zu dokumentieren, als ob es keine inhaltliche Gewichtung zwischen Schriftsätzen, Beschlüssen, Zustellungsnachweisen oder Kostenrechnungen gäbe.

Die gerichtlichen Akten sind inhaltlich ungeordnet, es gibt nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis, wenn nicht eine gute Seele für einige wichtige Dokumente die Blattzahl auf dem Aktendeckel vermerkt hat. Anwaltliche Schriftsätze sind häufig nicht sachdienlich gegliedert, sondern »runterdiktiert«. Und so ist es zunächst die vornehmste Aufgabe der Richterin oder des Richters, in einem zeitraubenden Suchspiel die entscheidungserheblichen Fakten zu identifizieren und durch die Anfertigung eines Aktenspiegels oder einer Relationstabelle wiederauffindbar zu machen.

Nun könnte der Verdacht aufkommen, ein alternder Gerichtspräsident mit dem Horizont auf die Ruhestandsgrenze wollte jungen Juristinnen und Juristen das Richteramt ausreden. Das Gegenteil ist der Fall. Dabei ist klar, dass die Vergütung nicht die ausschlaggebende Motivation für den Eintritt in den höheren Justizdienst sein kann. Mit den Einstiegsgehältern der Großkanzleien kann die Justiz nicht mithalten.

Aber der Richterin oder dem Richter darf es letztlich auch nicht vorrangig ums Geldverdienen gehen: Es gilt vielmehr, allen Menschen, die vor Gericht ziehen, rechtsstaatliches Gehör zu geben und justizförmige Verfahren zu gewährleisten. Dabei kommt jungen Richterinnen und Richtern von Anfang an die volle Verantwortung zu: In den von ihnen selbst geführ­ten Verfahren leiten, verhandeln und vermitteln sie vollständig eigenverantwortlich, und dies ist der in der beruflichen Umsetzung ausgesprochen befriedigende Anspruch an Richterinnen und Richter, die der Neutralität und dem Gesetz – und nicht den Partikularinteressen der Parteien – verpflichtet sind.

Was die oben beschriebenen Arbeitsbedingungen angeht: Die Zeiten, in denen die Richter um 13 Uhr zum Tennisspielen gingen, sind lange vorbei. Es gibt reichlich Arbeit, und eigentlich noch viel mehr, aber mit den geringeren Bezügen korrespondieren nach wie vor eine akzeptable Arbeitszeit und die enorme Familienfreundlichkeit der Justiz. Und die Aktenberge und die Gürteltiere?

Eine sehr viel digitalere Zukunft der Gerichte steht unmittelbar bevor: Ab 2026 sind die Akten aller Gerichtsbarkeiten und der Staatsanwaltschaften auf der Grundlage gesetzlicher Anordnung elektronisch zu führen. Die modernen Aktensysteme werden zahlreiche Möglichkeiten anbieten, die Akten effektiv zu durchsuchen sowie individuelle Aktenexzerpte anzulegen.

Mit der zum 1. Januar 2022 in Kraft getretenen Pflicht zur ausschließlich digitalen Einreichung für Anwälte, Behörden und Körperschaften des öffentlichen Rechts ist der erste Schritt zu komplett digitalen Geschäftsprozessen bei den Gerichten getan. Die Einführung der elektronischen Akte wird für Gerichte und Staatsanwaltschaften ein wichtiger Schritt zur Erhöhung der Effektivität der Arbeit und der Attraktivität ihrer Arbeitsplätze sein.

Mit der Einführung der Möglichkeit von Video-Gerichtsverhandlungen vom Arbeitsplatzrechner aus sind die Gerichte in der Corona-Krise schon signifikant in die digitale Zukunft eingetreten und die elektronische Aktenführung wird die Möglichkeiten rechtssicherer richterlicher Arbeit im Home-Office perfektionieren.

Natürlich werden die Gerichte auch in der digitalen Zukunft die Rechtsprobleme und Konflikte der Menschen mit Verhandlungsgeschick und Geduld persönlich und in den meisten Fällen in Präsenz in den Gerichten bearbeiten. Bei aller Freude an einer digitalen Effektivierung der Arbeit: Es darf niemals vergessen werden, dass die Gerichte für die Bürgerinnen und Bürger und deren Anliegen da sind. Daher auch meine Bitte: Erwägen Sie ernsthaft, an der Zukunft in einer attraktiven digitaleren Justiz als Richterin oder Richter mitzuwirken.

 

Über den Autor:

Prof. Dr. Ralf Köbler
seit 1991 im höheren Justizdienst des Landes Hessen tätig, zunächst als Staatsanwalt, von 1995 bis 2015 im Hessischen Ministerium der Justiz, zuletzt als Abteilungsleiter für Organisation und IT-Einsatz. Seit 2015 ist er Präsident des Landgerichts Darmstadt und seit 2021 nach langjähriger Lehrtätigkeit im Bereich eJustice und strukturierter Parteivortrag Honorarprofessor an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.