Drohender Notstand

von Wolfgang Jacobs

Eine Untersuchung der Oberlandesgerichte Hamm, Nürnberg, Jena sowie des Kammergerichts zu lang dauernden Zivilverfahren kam im Jahre 2012 zu dem Ergebnis, dass in Gerichtsverfahren mit Sachverständigen der zeitliche Anteil des Sachverständigenbeweises an der Verfahrenslaufzeit circa 40 % beträgt. Darin enthalten sei ebenfalls die Suche nach geeigneten Sachverständigen.

In manchen Fällen bereite bereits die Auswahl des Sachverständigen Schwierigkeiten, was die Dauer des Sachverständigenbeweises merklich verlängere. Nicht selten sei eine Anfrage bei mehreren Sachverständigen nötig.

Die Ergebnisse dieser Untersuchung haben unter anderem dazu geführt, dass nach § 411 ZPO bei Anordnung schriftlicher Begutachtung nunmehr dem Sachverständigen vom Gericht eine Frist zu setzen ist, innerhalb derer er das von ihm unterschriebene Gutachten zu übermitteln hat. Diese Frist beträgt üblicherweise drei Monate.

Bekanntlich gibt es für Sachverständige weder eine gesetzliche Grundlage, die Inhalt und Werdegang seiner Ausbildung zum selbigen vorschreibt, noch ist seine Berufsausübung gesetzlich geregelt.

§ 404 Absatz 3 ZPO bestimmt lediglich, dass für den Fall, dass für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt und vereidigt sind, andere Personen nur dann gewählt werden sollen, wenn besondere Umstände es erfordern.

Die Gesamtzahl der auf rund 400 Sachgebieten öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen beträgt derzeit circa 15.000 Personen – mit abnehmender Tendenz. Für diesen Rückgang sind verschiedene Gründe ursächlich. Die in Deutschland derzeit noch anhaltende gute Konjunktur und damit die weitestgehend gute bis sehr gute arbeitsmäßige Auslastung der Sachverständigen führt dazu, dass die Frage ihrer fachlichen Qualifikation von Auftraggebern gerade aus dem privatwirtschaftlichen Bereich nicht vorrangig gestellt wird.

Entscheidend ist, dass ein Sachverständigengutachten möglichst zeitnah erstellt wird, wobei man von Seiten der Auftraggeber beim Sachverständigen eine entsprechende fachliche Expertise voraussetzt. Weiterhin lässt die hohe Nachfrage gerade bei den Ingenieurberufen erst gar nicht die Idee aufkommen, sich mit einer beruflichen Tätigkeit als Sachverständiger zu befassen. Gerade diejenigen, die nach zehn- bis fünfzehnjähriger Berufstätigkeit über große berufliche Fachkenntnisse und Erfahrung verfügen, sind in ihrem „erlernten“ Beruf erfolgreich und haben wenig Anlass, sich in ihrem Berufsfeld zur oder zum Sachverständigen weiterzubilden. Und wenn dies dann doch einmal der Fall sein sollte, so erscheint es denjenigen, die sich für eine zukünftige gutachterliche Berufslaufbahn entscheiden, derzeit nicht notwendig, sich mit einer Öffentlichen Bestellung und Vereidigung zum Sachverständigen als besonderes Qualifikationsmerkmal für diese Berufstätigkeit hervorheben zu müssen, um im Sachverständigenberuf erfolgreich Fuß zu fassen.

Die oft mehrere Jahre umfassende Vorbereitung auf das anspruchsvolle schriftliche und mündliche Prüfungsverfahren und die nicht geringe Durchfallquote werden daher zunehmend als abschreckend empfunden, zumal sie mit einem beträchtlichen zeitlichen und finanziellen Aufwand für entsprechende Lehr- und Ausbildungsgänge verbunden sind.

Der deutliche Rückgang beim Nachwuchs und das zugleich altersbedingte Ausscheiden von öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen hat in den letzten Jahren zu einem merklichen Anstieg des Durchschnittsalters in dieser Berufsgruppe geführt.

Dieses liegt nach einer 2018 durchgeführten Studie des Instituts für Sachverständigenwesen e.V. (IfS) in Köln aktuell bei 59 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich 59 % – und damit mehr als jeder zweite Sachverständige – innerhalb des Altersintervalls von 51 bis 65 Jahren. 24 % der öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen sind über 65 Jahre alt.

Im Gesamtergebnis zeigt diese Studie, dass bei Betrachtung aller Sachgebiete insgesamt bis zu 15 % weniger Sachverständige innerhalb der nächsten fünf Jahre öffentlich bestellt und vereidigt sein könnten, sofern dieser rückläufige Trend bei den Erstantragsstellungen für die Sachverständigenbestellungen sich nicht deutlich abschwächt oder sogar ins Gegenteil verkehrt. Bei einzelnen „seltenen“ Sachgebieten ist sogar zu befürchten, dass der Rückgang der Zahl bestellter Sachverständiger noch deutlich größer ausfallen wird.

Die sich aus dieser negativen Tendenz ergebenden Auswirkungen werden bereits in wenigen Jahren deutlich nachteilige Konsequenzen auf die Verfahrensdauer gerade in der Zivilgerichtsbarkeit haben, wo nahezu jedes zweite Verfahren nur mittels eines oder mehrerer Sachverständigengutachten erfolgreich zu Ende geführt werden kann. Die nunmehr erst seit wenigen Jahren existierende genannte Vorgabe, dass Gerichtssachverständigen mit ihrer Heranziehung zur Gutachtenerstattung in einem Rechtsstreit eine Frist zwingend vorzugeben ist, in der sie das von ihnen geforderte Gutachten zu erstatten haben, wird da wenig helfen, wenn denn die Sachverständigen mit Gerichtsgutachten im Sinne des Wortes „zugeschüttet“ werden.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass von vielen Sachverständigen die Tätigkeit als Gerichtsgutachter als weniger lukrativ im Vergleich zu besser honorierten Aufträgen aus der Privatwirtschaft angesehen wird und daher die gerichtliche Gutachtenerstattung diesen nur im Rahmen einer Mischkalkulation mit privaten Gutachtenaufträgen möglich ist.

Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige sind zudem durch ihre Sachverständigenbestellung verpflichtet, als Gutachter für Gerichte tätig zu werden. Wenn diese nach § 404 Absatz 3 ZPO bevorzugt für die gerichtliche Gutachtenerstattung heranzuziehende Sachverständigengruppe dieser Verpflichtung weiterhin möglichst zeitnah nachkommen soll, wobei derzeit trotz Fristsetzung durch die Gerichte wegen der hohen Auslastung Zeiträume zwischen Heranziehung durch das Gericht und Abgabe der Gutachten von einem Jahr und mehr leider keine Ausnahme mehr darstellen, ist hier dringender Handlungsbedarf gegeben.

Neben Bestellungskörperschaften und Berufsverbänden im Sachverständigenwesen sind auch die Rechtsanwaltschaft und die Gerichte selber aufgerufen, ihnen bekannte fachlich wie persönlich geeignete Sachverständige, die noch nicht öffentlich bestellt und vereidigt sind, zu motivieren, sich mit dieser beruflichen Perspektive zu befassen.

Über den Autor

Wolfgang Jacobs
Rechtsanwalt, Geschäftsführer des
BVS - Bundesverband öffentlich bestellter
und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger 
sowie Dozent im Bereich der Sachverständigenaus-
und -weiterbildung

Quelle NJW 14/2020