Qualität nur in die Muttersprache?

von Karen Rückert

In englischsprachigen Ländern ist das Muttersprachenprinzip ein Grundsatz für Professionalität. Auch international tätige Übersetzungsdienstleister werben damit gerne als „Garantie für Qualität“. Doch ist es das wirklich? Und wie sieht es mit juristischen Fachübersetzungen aus?

Das Muttersprachlerprinzip ist ein Ansatz in der professionellen Übersetzung, der vor allem in den englischsprachigen Ländern von der Übersetzungsbranche zu Grunde gelegt wird. Nach diesem Prinzip sollte ein Übersetzer nur in die eigene Muttersprache übersetzen.

Dieser Grundsatz wird von der traditionellen Übersetzungstheorie unterstützt und beruht auf der Annahme, dass nur ein Muttersprachler der Zielsprache einen einwandfreien Zieltext produzieren kann. Mittlerweile gilt diese Vorgabe als goldene Regel und wird widerspruchslos von Übersetzern und Übersetzerverbänden in Großbritannien und in anderen anglophonen Ländern hingenommen.

Zwar trifft auf traditionelle Formen der Übersetzung wie zum Beispiel Literaturübersetzungen zu, dass der Redefluss im Zieltext oberste Priorität hat (da hier der ästhetische Effekt des Textes auf den Leser entscheidend ist), doch wurde dieser Standard inzwischen automatisch auch auf alle anderen Arten der Übersetzung, einschließlich technischer und juristischer Dokumente, ausgeweitet und in der englischsprachigen Übersetzungsbranche wird es als Verkörperung der Professionalität erachtet. Dies ist anderswo allerdings nicht der Fall.

Übersetzungen in beide Richtungen als Standard

Bei Sprachen, die nur begrenzt verbreitet sind, ist die Übersetzung in die und aus der Muttersprache ganz einfach deshalb notwendig, weil es nicht genügend muttersprachliche Übersetzer gibt, um die Nachfrage nach Übersetzungen zu decken. Wenn es um die deutsche Sprache geht, ist dies jedoch ganz sicher nicht der Fall und dennoch ist das Übersetzen in beide Richtungen in Deutschland gängige Praxis. Der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer e.V. (BDÜ) hat keinerlei Auflagen dahingehend erlassen, dass lediglich in die Muttersprache übersetzt werden darf.

Außerdem werden in Deutschland auch nur Übersetzer zur Beeidigung bei Gericht zugelassen, die in der Lage sind, in beide Richtungen zu übersetzen. Es ist nicht möglich, sich in nur eine Sprachrichtung beeidigen zu lassen. Dadurch werden automatisch viele Englisch-Muttersprachler ausgeschlossen, die sich an das Muttersprachlerprinzip halten und nicht aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen möchten. Gleichzeitig entsteht aber eine größere Nachfrage nach Übersetzern, die beeidigte Übersetzungen in die Fremdsprache Englisch anfertigen.

Das Muttersprachlerprinzip ist auch in Deutschland kein fremdes Konzept: Viele Kunden verlangen, dass Muttersprachler der Zielsprache ihre Übersetzungen anfertigen, und die Mehrheit der Übersetzungsagenturen hierzulande hat dies inzwischen auch in die Liste der Kriterien für ihre Übersetzer aufgenommen.

Im Hinblick auf diese entgegengesetzten, aber gleichzeitig funktionierenden Praktiken stellt sich die Frage, ob eine gute Übersetzung in der Tat von der Muttersprache des Übersetzers abhängig ist. Oder gibt es vielleicht Übersetzungsfachgebiete, für die das Muttersprachlerprinzip nicht unbedingt gilt, für die es andere, ebenso wichtige oder gar noch wichtigere Kriterien gibt?

Um diese Fragen zu beantworten, ist zunächst ein Blick auf die Annahmen, auf denen das Muttersprachlerprinzip basiert, erforderlich.

Annahmen

Nach dem derzeitigen Stand basiert das Muttersprachlerprinzip auf zwei Annahmen:

1. Nicht-Muttersprachler der Zielsprache sollten nicht in diese Sprache übersetzen, weil ihr sprachliches Niveau dafür nicht ausreichend ist.

2. Ein Muttersprachler der Zielsprache wird eine adäquate Übersetzung liefern.

Bei beiden Annahmen geht es vor allem um den Aspekt der sprachlichen und stilistischen Sicherheit in der Muttersprache. Im Idealfall wäre jede Übersetzung auf jedem Fachgebiet im Hinblick auf sprachliche und stilistische Genauigkeit und inhaltliche Korrektheit perfekt.

Bei hochspezialisierten Übersetzungsgebieten, wie zum Beispiel dem Rechtswesen, wo nicht nur zwischen zwei Sprachen, sondern auch zwischen zwei Rechtssystemen übersetzt werden muss, ist dies jedoch oft utopisch, zumal Übersetzer selten umfassendes Wissen in den Rechtssystemen der Quell- und Zielsprache vorweisen können. Es wird also klar, dass man in vielen Fällen Kompromisse eingehen muss.

Im juristischen Bereich erfolgt jedoch der Großteil der Übersetzungen zu Zwecken der Referenz und Information. Zum Beispiel werden Texte übersetzt, weil Geschäftsleute, die nicht der deutschen Sprache mächtig sind, hier in Deutschland agieren und damit alle Geschäftsvorgänge dem deutschen Rechtssystem unterliegen. Der Hauptzweck dieser Übersetzungen ist daher die Vermittlung der Aussage des Quelltextes, und deshalb muss die fachliche Korrektheit Vorrang vor der sprachlichen und stilistischen Genauigkeit haben.

Also ist der ideale Übersetzer für ein sehr kompliziertes Thema vielleicht tatsächlich ein muttersprachlicher Experte der Quellsprache (z. B. ein ausländischer Anwalt), der in der Lage ist, die Besonderheiten spezieller Rechtsfragen zu erklären.

Eine These

Wenn ein Muttersprachler der Zielsprache der Schlüssel zu einer fließenden Übersetzung ist, die sprachlich und stilistisch perfekt sein muss, dann wäre vielleicht ein Muttersprachler der Quellsprache der Schlüssel zu einer Übersetzung, die die komplexen Details eines hochspezialisierten Quelltextes korrekt vermitteln soll.

Die Fallstudie

Um diese These zu untersuchen, habe ich eine Fallstudie mit professionellen juristischen Übersetzern durchgeführt. Die Studie hat sich mit den folgenden Fragen beschäftigt:

1. Kann ein professioneller juristischer Übersetzer, der Nicht-Muttersprachler der Zielsprache ist, eine adäquate juristische Übersetzung liefern?

2. Liefert ein professioneller juristischer Übersetzer, der Muttersprachler der Zielsprache ist, automatisch eine adäquate juristische Übersetzung?

Ich habe sieben englische und sechs deutsche Übersetzer gebeten, einen kurzen informativen juristischen Text, der die Prinzipien des Berufungsgerichtssystems in Deutschland erklärt, vom Deutschen ins Englische zu übersetzen. Die Übersetzungen wurden dann hinsichtlich ihrer Adäquatheit beurteilt.

Für den Zweck dieser Studie1 verlangt die „Adäquatheit“ von der Übersetzung die genaue Übermittlung der Quelltextaussage. Die Übersetzungen wurden daher als inadäquat beurteilt, wenn sie semantische, stilistische oder sprachliche Fehler enthielten, die gravierend genug waren, um die Quelltextaussage zu verzerren.

Die Ergebnisse

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass keine direkte Verbindung zwischen der Muttersprache des Übersetzers und der Adäquatheit besteht. Der Studie zufolge können sowohl Muttersprachler als auch Nicht-Muttersprachler der Zielsprache adäquate (4/7 beziehungsweise 2/6), aber auch inadäquate Übersetzungen liefern (3/7 und 4/6).

Semantische Fehler waren die einzige Art Fehler, die zu einem nichtadäquaten Zieltext geführt haben, und diese Fehler wurden überraschenderweise sowohl von Muttersprachlern als auch von Nicht-Muttersprachlern der Zielsprache gemacht.

Die meisten semantischen Fehler waren auf unzureichendes Fachwissen zurückzuführen: Die falsche Interpretation von Polysemen („Recht“ kann sowohl „law“ als auch „right“ bedeuten), das Versäumnis, technische Begriffe zu erkennen und korrekt zu übersetzen, und das Verwechseln von Begriffen der Zielsprache (z.B. „jurisdiction“ und „jurisprudence“).

Wie vom Muttersprachlerprinzip angenommen, haben manche Nicht-Muttersprachler der Zielsprache Fehler im Hinblick auf die sprachliche und stilistische Korrektheit gemacht. Unerwarteterweise unterliefen diese Fehler jedoch auch Muttersprachlern der Zielsprache. Keiner der sprachlichen und stilistischen Fehler, weder die der Muttersprachler, noch die der Nicht-Muttersprachler, waren jedoch gravierend genug, um die Übersetzung als inadäquat einzustufen. Die Quelltextaussage wurde trotzdem präzise übermittelt.

Stilistische Fehler und Fehler bei sprachlichen Feinheiten kamen bei Übersetzungen der Nicht-Muttersprachler häufiger vor, während die Fehler der Muttersprachler eher in Richtung Kauderwelsch gingen; beispielsweise wenn der Übersetzer die Beeinflussung des Quelltextes in der Übersetzung zuließ. Bei Übersetzern, die im Ausland leben und arbeiten, ist es darüber hinaus auch möglich, dass die Umgebungssprache ihre Muttersprache beeinflusst. Diese Erkenntnisse legen nahe, die Annahme zu überdenken, das Muttersprachlerprinzip sei ein Garant für einen sprachlich und stilistisch einwandfreien Zieltext, geschweige denn für eine fachlich korrekte Übersetzung.

Fünf der sechs Übersetzungen, die für adäquat befunden wurden, wurden von Übersetzern erstellt, die in irgendeiner Form eine juristische Ausbildung genossen hatten. Dies wiederum deutet darauf hin, dass Fachwissen in der Tat der Schlüssel zu einer adäquaten juristischen Übersetzung sein könnte.

Fazit

Ich möchte nicht behaupten, dass man bei der Beauftragung von Übersetzungen die Muttersprache ganz außer Acht lassen sollte. Es wird sicherlich viele Fälle geben, in denen ausschließlich eine Übersetzung von einem Muttersprachler der Zielsprache die gestellten Ansprüche erfüllen wird.

Um jedoch einer Übersetzung dieser Art gerecht zu werden, muss der Muttersprachler auch unbedingt über das erforderliche Fachwissen verfügen.

Als Auftraggeber sollte man deshalb darauf bestehen, dass der Dienstleister über eine Fachausbildung verfügt oder, im Falle von Übersetzungsagenturen, dass diese Agenturen mit Übersetzern zusammenarbeiten, die sich das nötige Fachwissen angeeignet haben.

In hochspezialisierten Bereichen muss man sich möglicherweise auf Kompromisse einlassen: Eine Übersetzung, die die Quelltextaussage mit ein paar stilistischen und sprachlichen Fehlern (die von einem Korrektor verbessert werden können) präzise übermittelt zum Beispiel, ist zwingend einer Übersetzung vorzuziehen, die sprachlich und grammatikalisch einwandfrei ist, jedoch die Quelltextaussage verzerrt oder gar fehlinterpretiert. Diese Fehler sind im finalen Zieltext nicht mehr erkennbar, wenn der Leser nicht auf den Quelltext zurückgreifen kann.

Werden geschäftliche und juristische Entscheidungen basierend auf einer solchen irreführenden Übersetzung getroffen, kann großer Schaden entstehen.

Seien Sie also vorsichtig und fragen Sie ruhig nach den fachlichen und nicht nur nach den sprachlichen Qualifikationen der potentiellen Dienstleister. Die Ergebnisse Ihrer anspruchsvollen Arbeit sollten Sie auf jeden Fall nur Profis anvertrauen, die nicht nur ihre Muttersprache beherrschen, sondern auch Ihre Fachsprache.

Dieser Artikel baut auf einem für die Fachzeitschrift für Übersetzen und Dolmetschen MDÜ verfassten Beitrag auf.

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1 Details zum Modell zur Qualitätsbeurteilung in der Masterarbeit „The native speaker principle and its place in legal  translation“, http://juristische-uebersetzungen-rueckert.de/ueber-mich.html

Über die Autorin:

Karen Rückert
Fachübersetzerin DE > EN,
spezialisiert auf Übersetzungen in den Bereichen IP
und Konfliktlösung sowie öffentlich bestellte und
beeidigte Urkundenübersetzerin der englischen Sprache
für Baden-Württemberg

Quelle NJW 17/2019