Muss ich alles verteidigen? - Eine Entscheidungshilfe

von Ingo Lenßen

Als blutjunger Anwalt wurde mir ein Mandat angetragen, bei dem es um die Verteidigung eines Sexualstraftäters ging. Eigentlich hatte ich beschlossen, solche Verteidigungen nicht zu übernehmen, tat es aber schlussendlich dennoch, weil der Täter geständig war und es somit um eine reine Strafmaßverteidigung ging. Doch schon bald offenbarte eine Diskussion im privaten Umfeld den Konflikt, dem ich mich durch die Übernahme eines solchen Mandats ausgesetzt hatte. Kommentare und Vorwürfe wie »Wie kannst du nur!« und »Hast du sie noch alle?!« waren dabei wohl noch das Harmloseste, was ich mir anzuhören hatte.

Die entscheidende Frage

Doch bei aller Kritik war es im Besonderen ein kurzer Moment, der meine gesamte spätere Laufbahn als Anwalt beeinflusste, als mich nämlich einer meiner besten Freunde eines Abends fragte: »Warum tust du das?« Dieser kleine Satz hört sich lapidar an, aber es ist genau die Schlüsselfrage, die sich jeder angehende oder junge Anwalt1 stellen sollte, bevor er sich entscheidet, Strafverteidiger zu werden. Denn ich bin der festen Überzeugung, dass zur Tätigkeit eines solchen auch die eigene Persönlichkeit gehört. Und nicht nur gehört, sie ist unabdingbar. Sie entscheidet, ob man Erfolg haben wird oder nicht. Zur Entwicklung dieser Persönlichkeit gehören im Vorfeld Fragen, die man sich stellt, und Antworten, die man sich gibt. Es gilt, Entscheidungen bezüglich des eigenen Ichs zu treffen, zu denen man steht, und diese jederzeit auch gegen außen zu verteidigen. Auch wenn dies Kraft kostet und – im wirtschaftlich ungünstigsten Fall – den Verlust eines Mandats bedeutet. Denn es kann und darf immer nur um das Wohl des Mandanten gehen. Doch das Beste für diesen kann man nur erreichen, wenn man selbst zu 100 Prozent hinter dem Mandat steht. Auch dieser Satz hört sich wieder lapidar und sogar ein wenig abgedroschen an – doch er ist der Schlüssel zum Erfolg. Das Schlimmste, was einem Mandanten passieren kann, ist ein Anwalt, der gegen seine eigene Überzeugung verteidigt! Das geschieht leider viel zu oft und hinterlässt meist nur verbrannte Erde. Denn mit dem Grundsatz, dass jeder Beschuldigte ein Recht auf einen Verteidiger hat, kann man sich als Anwalt schnell in einen sicheren Hafen zurückziehen und mögliche Diskussionen im Keim ersticken. Doch genau das ist im höchsten Maße unprofessionell!

Eigene Werte und Überzeugungen definieren

Deshalb sollten die entscheidenden Fragen lauten: Wer bin ICH? Welche ethischen, welche politischen Überzeugung habe ICH? Wann würde ich es nicht schaffen, mich vor den Mandanten zu stellen und ihn bestmöglich zu verteidigen? Denn das ist der Knackpunkt: Man muss seinen Mandanten nicht nur verstehen, wenn man ihn bestmöglich verteidigen will, man muss auch selbst davon überzeugt sein, das Richtige zu tun! Und das kann man einfach nicht, wenn man zum Beispiel jemanden aus der politisch rechtsextremen Szene vertritt, dessen Gedankengut man nicht nachvollziehen kann, das einem vielleicht sogar zuwider ist. Oder gehen wir zu einem extremeren Beispiel: Bin ich bereit, im Zuge einer Verteidigung eines nicht geständigen Sexualstraftäters alle Fragen zu stellen, die ich stellen muss? Im Zweifel sogar, wenn ich weiß, dass er schuldig ist? Denn genau das muss ich ja, wenn ich den Fall übernommen habe. Ich bin meinem Mandanten verpflichtet. Doch kann ICH dann vor den Opfern stehen und ihnen auf den Kopf zusagen, dass ich an dem Tatvorgang zweifle? Dass ich nicht glaube, dass etwas passiert ist? Eiskalt die anderen der Lüge bezichtigen? Kann ich Opfer, vielleicht sogar Kinder vor Gericht zerren und sie einer peinlichen Befragung unterziehen?

Strafverteidigung – kein Beruf, sondern Berufung

Egal, wie die persönliche Antwort ausfällt: Hat man sich diese Fragen im Vorfeld gestellt, für sich die richtige Entscheidung getroffen, hat man auf keinen Fall einen Fehler begangen. Das heißt aber natürlich nicht, dass der Strafverteidiger Scheu haben darf, sich mit dem Verbrechen und damit auch mit den daran Beteiligten auseinander zu setzen. Eine solche Auseinandersetzung und die dafür notwendigen, oft schmerzhaften Abläufe sind existenziell für eine Strafverteidigung. Das ist es auch, was diesen Beruf so faszinierend macht! Und genau das muss man als ein guter Strafverteidiger sein: fasziniert. Fasziniert von den Möglichkeiten, fasziniert von den Abläufen, fasziniert von dem … Spiel. Das meine ich auf keinem Fall despektierlich. Aber als Strafverteidiger hat man nicht nur einen Beruf, es ist auch eine Berufung! Man lebt dafür. Man hängt nicht einfach am Abend seinen Talar an den Haken. Die Mandanten, die Taten, die Opfer, die Urteile, das eigene Leben – alles hängt zusammen, alles spielt zusammen. Und man WILL dieses Spiel annehmen. Man WILL gewinnen. Nicht nur für den Mandanten, auch für sich. Ich sehe es immer noch, nach über 30 Jahren, als persönliche Niederlage an, wenn ich einen Fall verliere. Ich bin der Spielführer, der den Gegner in die Knie zwingen will, der frustriert gegen die Bande schlägt, der bei Erfolg jubelt und der alles dafür tut, damit sein Team gewinnt. Doch dafür muss ich ICH sein. Ich muss um meine Stärken wissen, um diese Stärken auch für meine Mandanten einsetzen zu können. Nur dann kann ich der Strafverteidiger sein, von dem ich, wäre ich ein Mandant, mir selbst wünschte, er wäre meiner.

Über den Autor:

Ingo Lenßen
ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in seiner Kanzlei Lenßen & Partner in Bodman-Ludwigshafen. Er studierte an den Universitäten Konstanz und Saarbrücken sowie an der Universität UMIT in Hall/Österreich. Sein Referendariat absolvierte er am Landgericht Konstanz.

1 Das generische Maskulinum wird in diesem Beitrag ausschließlich zur besseren Lesbarkeit verwandt und bezieht sich auf alle Juristen (w/m/d).