Zugang für alle - Barrieren in der digitalen Justiz abbauen

Über den Status quo von barrierefreier IT in der Justiz sprachen wir mit Ursula Weber, blinde Testexpertin für Barrierefreiheit, und mit André Meixner, Leiter Barrierefreiheits- und Ergonomietest bei T-Systems Multimedia Solutions, Dresden.

Was sind die aktuellen Herausforderungen in der Justiz?

Meixner: Eine der großen Herausforderungen ist die Digitalisierung. Doch der Gesetzgeber hat reagiert: Das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten schiebt die Digitalisierung der Justiz weiter an. In Zukunft soll die Kommunikation mit allen Gerichten ausschließlich elektronisch erfolgen. Über das besondere elektronische Anwaltspostfach werden Rechtsanwälte in Deutschland sicher mit der Justiz, mit Behörden sowie untereinander kommunizieren. Spätestens ab 2022 sind sie und sind Behörden verpflichtet, vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen nur noch als elektronische Dokumente zu übermitteln.
Doch der Blick auf ’s Ganze lohnt. Was nützt die elektronische Kommunikation mit und innerhalb der Justiz, wenn nicht auch Beschlüsse, Urteile sowie der gesamte Vorgang elektronisch vorliegen? Um die Potenziale voll ausschöpfen zu können, muss die Digitalisierung von Kommunikation, Verfahren und Aktenmanagement einschließlich der Übermittlungswege in der Justiz als ein großes Ganzes betrachtet werden. Dann bietet E-Justice nie dagewesene Möglichkeiten - sei es durch medienbruchfreie Prozesse, neue Formen der Zusammenarbeit oder durch effizientere Justizfachverfahren.

Weber: Laut des Statistischen Bundesamtes lebten 2013 in Deutschland 10,2 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. Um all diese Menschen in der Digitalisierung nicht abzuhängen, ist es heute wichtiger denn je, die Barrierefreiheit in allen Ebenen der Justiz-IT zu verankern. Eine barrierefreie elektronische Kommunikation mit – genauso wie innerhalb – der Justiz ist die Basis der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit besonderen Anforderungen.

Meixner: Eine weitere Herausforderung liegt in der Komplexität und Heterogenität der Justiz-IT. Heute existieren in den Bereichen Kommunikation, Verfahren, Aktenmanagementund Infrastruktur unterschiedlichste Lösungen. Ob Grundbuchauszug, Beschlusserstellung oder Aktenverwaltung, überall stehen verschiedene Systeme dahinter. Dabei gilt es, diese vielschichtige System- und Dokumentenlandschaft barrierefrei zu gestalten – nicht ganz einfach bei der gegebenen Komplexität.

Was sind die politischen Treiber für barrierefreie IT in der Justiz?

Weber: Barrierefreiheit ist kein neues Thema. In verschiedenen Bereichen der Justiz werden immer wieder Forderungen nach einer konsequenten Umsetzung laut – sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. Das von der Bund-Länder-Kommission für Informationstechnik in der Justiz herausgegebene Themenpapier zeigt auf, welche Hindernisse sich für behinderte Menschen ergeben und wie sich Barrieren vermeiden lassen. Die wesentlichen Handlungsfelder des aufgestellten Aktionsplanes sind dabei:

• die Entwicklung von zeitgemäßen Fachverfahren,
• das Erstellen von Formularen und Dokumenten,
• das elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach,
• der Anpassungsbedarf bei Rechtsverordnungen sowie
• die Sensibilisierung und Qualifizierung von Mitarbeitern in Behördenleitungen, Gerichten oder Staatsanwaltschaften.

Im Sinne der Barrierefreiheit sollen die eingesetzten Informations- und Kommunikationssysteme vor allem wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sein. Die Erarbeitung solcher Aktionspläne und weitere Gesetzesmaßnahmen sowie der öffentlich geführte Diskurs über Inklusion erhöhen derzeit den Druck auf die Justiz.

Wie lassen sich Anwendungen barrierefrei gestalten?

Weber: Barrierefreiheit umzusetzen bedeutet nicht zwingend, zusätzliche Services zur Verfügung zu stellen. Vielmehr müssen die vorhandenen Services richtig strukturiert und programmiert werden. Die Anordnung aus Menü, Überschriften, Tabellen, Listen, Formularen etc. muss in eine Programmstruktur überführt werden, die Benutzer durch Hilfsmittel wie Bildschirmlese-Software oder Bildschirmlupen lesen können. Das Wahrnehmen ist allerdings nur der erste Schritt. Genauso wichtig ist, dass die Elemente sinnvoll und semantisch korrekt verwendet werden. Es gibt also immer zwei Ebenen, die berücksichtigt werden müssen: die programmtechnische Einhaltung von Standards und die verständliche und logische Aufbereitung der Inhaltsstruktur.

Meixner: Ein oft vernachlässigtes – aber wichtiges – Thema ist die barrierefreie Gestaltung digitaler Dokumente. Insbesondere PDF-Dokumente kommen im Zuge der digitalen Kommunikation verstärkt zum Einsatz, um etwa Formulare bereitzustellen. Sind die PDFs nicht entsprechend optimiert, können blinde Menschen diese weder lesen noch bedienen.

Welche Tipps können Sie zur Umsetzung geben?

Meixner: Wichtig ist, die Anforderung „Barrierefreiheit“ direkt in die Ausschreibungen mit aufzunehmen. So kann die Justiz sicherstellen, dass der ausgewählte Dienstleister auch die nötige Erfahrung hat. Des weiteren konnten wir aus bisherigen Projekten drei Best-Practices herausarbeiten:

• Die Sensibilisierung der Beteiligten zu Projektbeginn zum Thema Barrierefreiheit und deren Anforderungen,
• die Berücksichtigung der Barrierefreiheitsanforderungen bereits in Konzept und Design sowie
• die regelmäßige Prüfung von Entwicklungsständen, so dass Fehler frühzeitig erkannt und behoben werden können, sind essentiell.

Zusammenfassend bedeutet das: Die Institutionen und Justizverwaltungen sollten Barrierefreiheit grundsätzlich im Projektplan verankern. Wenn ein Dienstleister z. B. eine Anwendung, ein System oder den Internetauftritt fertiggestellt hat, empfehlen wir einen abschließenden Abnahmetest. Wir haben bei T-Systems Multimedia Solutions beispielsweise einen Testprozess entwickelt, mit dem wir verlässlich prüfen können, ob die gesetzlichen Anforderungen erfüllt sind und wie gut sich Benutzer mit einer bestimmten Behinderung tatsächlich in den Anwendungen zurecht finden. Dazu betrachten wir die gesetzlich vorgeschriebenen Kriterien nicht ausschließlich theoretisch, sondern prüfen die Einhaltung der Richtlinien auch praktisch unter Einsatz der gängigen Hilfsmittel wie Screenreader und Vergrößerungssoftware. Wir konnten diesen Prozess bereits in über 1.000 Projekten erproben und sind dafür auch durch die DAkkS (Deutsche Akkreditierungsstelle) zertifiziert.

 

Quelle NJW 47/2016