
Digitalisierung soll den internationalen Rechtsverkehr vereinfachen
Ein effektiver Zugang zur Justiz ist ein entscheidender Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren. Dieses wird nicht zuletzt in Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert.1 Natürliche und juristische Personen müssen in die Lage versetzt werden, ihre Rechte rasch, kosteneffizient und transparent auszuüben.2 Dies ist jedoch bei grenzüberschreitenden Verfahren eine Herausforderung. Insofern kommen digitale Technologien an dieser Stelle eine besondere Bedeutung zu. Denn sie machen eine effektive Zusammenarbeit innerhalb europäischer Rechtssysteme überhaupt erst möglich. Auf EU-Ebene gibt es daher ein umfassendes Paket an Instrumenten zur Stärkung der justiziellen Zusammenarbeit. Einen Teil der Gelder des Förderprogrammes der EU-Kommission erhielt dabei das Projekt „Findex II“.
Die Digitalisierung grenzüberschreitender Rechtsverfahren erfordert Standards
Wenn vor europäischen Gerichten besonderes Fachwissen benötigt wird, um einen Sachverhalt objektiv und fundiert beurteilen zu können, helfen Sachverständige.3 Trotz der Tatsache, dass Sachverständige und ihre Expertise die sprichwörtlich entscheidende Bedeutung in Rechtsstreitigkeiten haben, existieren keine gemeinsamen europaweiten Definitionen im Sachverständigenwesen. Dies ist umso unverständlicher, als dass ein nicht mehr ganz so junges Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern4 zumindest theoretisch die europaweite Arbeitsaufnahme von Sachverständigen erleichtert. Insofern liegt die Geltung europaweiter Minimalkriterien wie Unabhängigkeit und Unparteilichkeit für Sachverständige nahe. Denn das Vertrauen der EU-Bürger in ihre jeweiligen Rechtsordnungen und das Fairnessgebot5 muss auch im internationalen Raum zwingend erhalten bleiben.
Die Bedeutung von „Findex II“
Hier knüpft das von März 2022 bis Februar 2024 andauernde Projekt „Findex II“ an. Es fand unter der Beteiligung von internationalen Sachverständigenverbänden wie dem französischen European Expertise and Expert Institute und EuroExpert, unter anderem vertreten von BVS e.V.6 und IfS7 statt. Zurückgegriffen werden konnte dabei auf das Vorgängerprojekt „Findex I“, in welchem bereits der Status Quo der Bestellung von Sachverständigen in den einzelnen EU-Ländern untersucht wurde. Findex II wurde in sechs Arbeitspakete aufgeteilt, die sich jeweils mit Minimalkriterien für gerichtlich tätige Sachverständige beschäftigten, insbesondere mit fachlicher Kompetenz, Wissen über verfahrenrechtliche Abläufe und ethischen Aspekten. Ferner wurde eine Liste von entsprechenden Standards für die jeweiligen Zulassungskörperschaften erarbeitet. Eine weitere international besetzte Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit der Vereinheitlichung von Fachbegriffen im europäischen Sachverständigenwesen. Dies betraf insbesondere die vielfältigen Disziplinen, in denen Sachverständige vor Gericht tätig sind.
Mit „Findex II“ in die Zukunft
Nachdem jede der beteiligten Gruppen ihre Erkenntnisse in sogenannten Deliverables festgehalten hatten, fand im Juni 2023 am Oberlandesgericht Köln die Consensus Conference statt. Hierfür wurde eine zehnköpfige Jury aus den Niederlanden, Luxemburg, Rumänien, Malta, Österreich, Spanien, und Belgien berufen, die unter dem Vorsitz von Richterin am LG Kiel Dr. Katrin Seidel (Deutschland) und dem Präsidenten der italienischen Rechtsanwaltskammer Prof. Guido Alpa (Italien) die Arbeitsergebnisse kommentierten und abnahmen. Gleichzeitig wurde die erste Demoversion einer digitalen Datenbank programmiert, mit der zunächst für die „Pilot Countries“ des Projektes (Belgien, Frankreich, Luxemburg, Italien, Polen und Rumänien) Sachverständige nach Sachgebieten auffindbar sein sollen.
Nach dem erfolgreichen Abschluss von „Findex II“ laufen derzeit Planungen für ein entsprechendes Nachfolgeprojekt. Aus diesem heraus soll eine europaweite Suchdatenbank für Sachverständige entstehen. Mit dieser wäre die europäische Justiz einen kleinen, aber nicht unbedeutenden Schritt weiter in Richtung grenzüberschreitende Digitalisierung.
1Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. C 326 vom 26.10.2012, S. 391.
2 Siehe auch Begründung für VERORDNUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES über die Digitalisierung der justiziellen Zusammenarbeit und des Zugangs zur Justiz in grenzüberschreitenden Zivil-, Handels- und Strafsachen und zur Änderung einiger Rechtsakte im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit, Brüssel, den 1.12.2021, COM(2021) 759 final, 2021/0394(COD).
3Mit der gesetzlich ungeschützten Bezeichnung „Sachverständige“ sind in diesem Beitrag öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige gemeint, die vorwiegend gerichtlich tätig sind.
4 „Freizügigkeitsgesetz/EU vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 20. April 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 106) geändert worden ist.
5 Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, in Deutschland im BGBl. 1952 II S. 685, ber. 953,
6 Bundesverband öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger e.V.
7 Institut für Sachverständigenwesen e.V
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Hinweis zur Autorin:
Verena Wirwohl
ist Rechtsanwältin beim Bundesverband öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger e.V. in Berlin. Vorher war sie in einer englischen Großkanzlei und bei mehreren Bundesverbänden tätig. Neben der Rechtsberatung für Verbandsmitglieder ist sie deutschlandweit als Speakerin, vorwiegend bei Industrie- und Handelskammern tätig. Für das internationale Projekt Findex II fungierte sie von 2022 bis Anfang 2024 als Arbeitsgruppenleiterin.
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