
Die öffentliche Bestellung/Ermächtigung/Beeidigung gemäß dem am 1. Januar 2023 bundesweit in Kraft getretenen Gerichtsdolmetschergesetz1 bedeutet, dass ein Übersetzer oder Dolmetscher2 die entsprechende Qualifikation nachweisen muss, um im Bereich Recht tätig zu sein. Ein Bestandteil dieser erforderlichen Qualifikation sind die Kenntnisse der deutschen Rechtssprache.3 Hingegen werden die Kenntnisse des fremden Rechts und der fremden Rechtssprache, in die und aus der übersetzt und gedolmetscht wird, nicht gefordert. Aber werden sie auch nicht gebraucht?
Grundsätzlich bewegen sich Rechtsübersetzter und Gerichtsdolmetscher zwischen zwei Rechtsordnungen: des Staates der Ausgangssprache und des Staates der Zielsprache. Die Zugehörigkeit eines Staates zu einer Rechtsordnung spiegelt sich in der Rechtssprache und ihren Besonderheiten wider. Institutionelle und dementsprechend terminologische Unterschiede sind insbesondere dann erheblich, wenn Rechtsordnungen zu unterschiedlichen Rechtskreisen gehören, dem anglo-amerikanischen, europäischen, ehemals sowjetischen oder anderen.
Sprachmittlung zwischen zwei Rechtsordnungen
Verschiedene Rechtsordnungen haben einzigartige Rechtsinstitute, die keine Analogien in anderen Rechtsordnungen haben, was Sprachmittler vor große terminologische Herausforderungen stellt. Einige solcher besonderen Rechtsinstitute in Deutschland sind das Jugendstrafrecht, der Versorgungsausgleich und die Pflegschaft für Kinder. Wenn man Russland als Gegenbeispiel nimmt, so existieren dort staatliche Wirtschaftsgerichte, ein Arbeitskodex und eine Ausnahmeinstanz für Beschwerden namens „Aufsicht“.4 Die Übersetzung der entsprechenden Begriffe des materiellen und des prozessualen Rechts ist ohne ein tiefgründiges Verständnis der Inhalte dieser Institute nicht möglich.
Wörterbücher sind in diesem Fall nicht hilfreich, denn nicht selten bieten sie kontextfremde, fehlerhafte Lösungen an. Bspw. findet man in Wörterbüchern Deutsch-Russisch folgende irreführende Lösungen: für Schwurgericht – „Geschworenengericht“5, für Wachtmeister – „Zwangsvollstrecker“5 und für Strafbefehl – „Verfügung über die Auferlegung der Geldstrafe“5. Nimmt ein Sprachmittler diese Übersetzungsvarianten, wird die Übersetzung grobe inhaltliche Fehler enthalten. Die den Markt erobernde maschinelle oder KI-gestützte Übersetzung kann ebenfalls zu Fehlern führen.
So wird z. B. der in Zivilsachen häufig verwendete Satz „Die Kosten werden gegeneinander aufgehoben“ weder von DeepL und Google-Übersetzer noch von Chat GPT zufriedenstellend ins Russische übersetzt. Alle angebotenen Varianten der Übersetzung entstellen – jede auf seine Art – den Sinn der Aussage. Anhand dieser Beispiele wird klar, dass die Hilfsmittel wie Wörterbücher oder maschinelle Übersetzung bei schwierigen Begriffen keine Hilfe leisten. Was einem Sprachmittler hilft, ist eine tiefgründige Recherche in der jeweiligen Rechtsordnung und die anschließende sorgfältige Rechtsvergleichung. Die Grundlage der Recherche bilden dabei, wie auch bei Juristen, Gesetzestexte, Gerichtsentscheidungen und themenbezogene wissenschaftliche Artikel.
Grundlagenkenntnisse, Recherche, Rechtsvergleichung
Die Fähigkeit, die jeweiligen Materialien lesen und verstehen zu können, sowie die grundlegenden Kenntnisse der Gerichtsbarkeiten, des Gerichtsaufbaus, der Grundzüge des materiellen und des prozessualen Rechts des jeweiligen Staates, ermöglicht erst die Arbeit eines Sprachmittlers im Rechtsbereich. Dies wiederum kann auch als „Kenntnis der (fremden) Rechtssprache“, z. B. der russischen, türkischen oder spanischen, bezeichnet werden. Weisen Sprachmittler zwecks Ermächtigung/Beeidigung lediglich die Kenntnisse der „deutschen Rechtssprache“ nach, befassen sie sich im nicht ausreichenden Maße mit der fremden Rechtssprache und verlassen sich auf Wörterbücher oder maschinelle Übersetzung, wird die Richtigkeit der Übersetzung und Verdolmetschung in Frage gestellt.
Eigenverantwortung der Sprachmittler
Warum fordern die beeidigenden Gerichte nicht den Nachweis der Kenntnisse der fremden Rechtssprache und des entsprechenden Rechts? Würden die Gerichte es tun, hätten Sprachmittler große Schwierigkeiten, diese nachzuweisen. In Deutschland werden zwar von einigen Anbietern Kurse für ausländisches Recht (spanisch, russisch, türkisch) oder zweisprachige Kurse für Rechtsübersetzer und Gerichtsdolmetscher angeboten, diese gibt es aber nur für wenige Sprachen. Ferner sind solche Kurse zeit- und kostenaufwändig, was sich viele Sprachmittler nicht leisten können.
Die Aneignung und die kontinuierliche Fortbildung in der fremden Rechtssprache bleiben somit kein Muss und sind allein der Verantwortung der Sprachmittler überlassen. Die Kenntnisse der deutschen Rechtssprache sind dabei eine zwingende, aber nicht ausreichende Voraussetzung für eine den Bedarfen der Justiz gerechte und hochwertige Sprachmittlung.
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1 Im Gesetz sind zunächst Voraussetzungen für die Beeidigung / öffentliche Bestellung von Dolmetschern geregelt. In vielen Bundesländern orientieren sich viele Gerichte auch bei der Ermächtigung von Übersetzern.
2 Generisches Maskulinum zwecks besserer Lesbarkeit.
3 In NRW und Sachsen: „Grundkenntnisse der deutschen Rechtssprache“.
4 Nauen, M. (2020). Übersetzung von Gerichtsdokumenten: Herausfordernd, richtig und unverständlich (mit Beispielen aus dem Sprachenpaar Russisch-Deutsch). In: Babel, Volume 66, Issue 2 «Übersetzen und Dolmetschen im juristischen Bereich», S. 262.
5 „sud prisjashnyh“. In: Kettler S. H., Kiseleva Y. Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache (2006). Bd. 2 Deutsch- Russisch. München: C.H.BECK. S. 307
6 „sudebnyj pristav“. In: Fachwörterbuch Recht Deutsch-Russisch. (2017). Hamburg: Jourist Verlags GmbH, S. 213.
7 „rasporjashenije o naloshenii strafa“. In: Köbler G. Rechtsrussisch (2008). Deutsch-russisches und russisch-deutsches Rechtswörterbuch für jedermann. 2. Auflage. München: Vahlen. S. 237.
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Über die Autorin:
Milana Nauen - Gerichtsdolmetscherin, Urkundenübersetzerin und Dozentin
Sie bereitet Übersetzer und Dolmetscher auf staatliche Prüfungen vor und bietet Fortbildungen für Sprachmittler und juristische Fachkräfte an.