Eins-zu-eins Übersetzungen im Recht, gibt es das?

von Prof. Dr. Tinka Reichmann

Der vielfach übersetzte Schriftsteller und Sprachwissenschaftler Umberto Eco argumentierte häufig lapidar, dass die Übersetzung – aller Probleme und Hürden zum Trotz – in der Praxis „funktioniert“, weil wir sonst heute nicht in der Lage wären, ausländische Literatur, heilige Schriften und andere Texte zu lesen – man könnte anfügen: auch keine Rechtstexte. Angesichts der vielfachen Fallstricke, die beim Übersetzen oder Dolmetschen im Recht lauern, ist es sehr passend, sich mit einigen relevanten Fragestellungen in diesem Bereich auseinanderzusetzen.

Wissenswertes zur Translation

Zu Beginn ein kurzer Überblick zur Terminologie und der Disziplin. In der Translatologie hat sich inzwischen der Terminus „Translation“1 als Oberbegriff für Übersetzen (schriftliches Übertragen) und Dolmetschen (mündliches Übertragen) etabliert, wobei es durchaus auch hybride Formen gibt, wie das „Vom-Blatt-Dolmetschen“ (oft bei der Verlesung der Anklageschrift bei Gericht verwendet, wenn der Dolmetscher die schriftliche Vorlage kurzfristig gereicht bekommt). Die recht junge Disziplin der Rechtstranslatologie beschäftigt sich als Interdisziplin mit der Translation des Rechts und dem Recht der Translation.

Bei der Translation des Rechts geht es grundsätzlich um alle Fragen zu Texten, die im rechtlichen Bereich in eine andere Sprache übertragen werden, wobei es sich nicht unbedingt um Rechtstexte i. e. S. handeln muss (z. B. Gefangenenpost; Gespräche in einer TKÜ-Überwachung), wenngleich die Rechtstexte den Bärenanteil ausmachen. Die Besonderheit der Translation des Rechts ist die Gebundenheit an das jeweilige Rechtssystem und daher nicht nur an die Amts- bzw. Gerichtssprache(n) eines Landes.

Das Recht der Translation wiederum bezieht sich auf rechtliche Grundlagen zum Übersetzen und Dolmetschen, wie z. B. § 189 GVG zum Dolmetschereid oder der Beschluss des OLG Schleswig, der die Tätigkeiten von Dolmetschern, Übersetzern und Sachverständigen präzisiert.2 Das Recht der Translation umfasst aber auch das Recht auf Translation, also Normen und Rechtsprechung dazu, wann und für wen Translationsleistungen verpflichtend sind.

Nicht nur im Recht gibt es Fiktionen

Fachfremde gehen oft von der Fiktion aus, dass alle sprachlichen Ausdrücke genaue Äquivalente in einer anderen Sprache haben und die Translation lediglich daraus besteht, diese durch andere auszutauschen. Das Gegenteil ist aber der Fall, denn schon auf der Ebene der Gemeinsprache gibt es selten volle Äquivalente. Viel häufiger sind Teil- oder Nulläquivalenzen (z. B. frz. main courante), die durch Übersetzungsverfahren wie Funktionsäquivalenz (z. B. frz. „garde à vue, die etwa der vorläufigen Festnahme entspricht“), Entlehnung, Paraphrasierung und/oder Fußnoten überbrückt werden können.

Die zweite Fiktion ist die der Wörtlichkeit, mit der man vermeintlich alle Translationsprobleme im Recht lösen kann. Wie oft hören Dolmetscher von Geschäftsstellen, wenn nach Informationen über eine bevorstehende Gerichtsverhandlung gefragt wird: „Sie müssen doch nur übersetzen!“. Auch in der Rechtswissenschaft wird teilweise davon ausgegangen, dass ein Dolmetscher wie ein „Übersetzungsautomat“ wörtlich zu übertragen habe:

Wörtlich zu übersetzen [sic] sind prozesserhebliche Erklärungen, Anklagesatz, Anträge, Entscheidungen.“

Aus linguistischer Sicht ist stets zu bedenken, dass die meisten sprachlichen Ausdrücke mehrdeutig sind und immer ein Kontext notwendig ist, um unter verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten die für die konkrete Situation angemessene zu wählen. Hierfür sind in der mündlichen Sprache zudem Betonung und Prosodie maßgeblich (z. B. Ténor/Tenór). Auch Rechtstermini sind häufig polysem, da viele auf sprachlichen Ausdrücken der Gemeinsprache beruhen.

So wortgetreu wie nur möglich

Grundsätzlich reicht die Palette von möglichst sinngemäßer bis zu möglichst wortgetreuer Übertragung. Erstere beruht auf Ähnlichkeiten bestimmter Konzepte, verleitet aber dazu, Rechtsinstitute der eigenen und der fremden Rechtsordnung gleichzusetzen und die Unterschiede auszublenden. Die möglichst wortgetreue Übertragung wiederum kann dazu führen, dass die Übersetzung vom Rezipienten nicht verstanden oder gar abgelehnt wird, z. B. „stabile Verbindung“ für „união estável“.4 In vielen Fällen lauern auch falsche Freunde, wie z .B. „Ministro“ als Titel der Richter der Oberen Gerichte in Brasilien, oft fälschlicherweise ins Deutsche als „Minister“ statt „Richter“ übersetzt.

Es ist im Hinblick auf Übersetzungen sehr hilfreich, zu klären, welche Funktion diese hat oder haben soll; so sind Urkundenübersetzungen Hilfstexte, die als Verständnishilfe für den fremdsprachigen Text fungieren. Die Richtigkeit und Vollständigkeit wird vom Übersetzer bestätigt (§ 142 (3) ZPO), und die Übersetzung wird mit einer Kopie des Ausgangstextes verbunden. Hier kann man die Übersetzung metaphorisch als Folie verstehen, die einen Vergleich mit dem Ausgangstext ermöglicht bzw. den Ausgangstext noch durchscheinen lässt.

Die perfekte Rechtsübersetzung gibt es wohl eher nicht, aber...

Um noch einmal auf Umberto Eco zurückzukehren: Er traf sich regelmäßig mit seinen Übersetzern, um ihnen Feinheiten der Interpretation seiner Texte transparent zu machen und teilweise auch, um gemeinsam mit ihnen gute Übersetzungslösungen für bestimmte Stellen zu erarbeiten. Im Bereich des Rechts ist sicherlich auch eine fruchtvolle Zusammenarbeit aller Expertinnen und Experten, d. h. Juristen, Übersetzern, Dolmetschern und Terminologen, die beste Möglichkeit, gute Translationsleistungen im Recht zu erstellen.

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Vom lat. „translatio“, daher nicht in der englischen Aussprache.
OLG Schleswig, Beschluss vom 23.03.2015 - 1 Ws 79/15, BeckRS 2015, 11001.
KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, GVG § 185 Rn. 3, 4.
Nach Art. 226 Abs. 3 der brasilianischen Verfassung seit 1996 eine eheähnliche, auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau (inzwischen durch Rechtsprechung erweitert auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften).

 

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Über die Autorin:

Prof. Dr. Tinka Reichmann - Professorin für Dolmetschwissenschaft und Rechtstranslatologie
Neben ihrer Tätigkeit an der Universität Leipzig ist sie vereidigte Übersetzerin und Dolmetscherin am LG Saarbrücken für Portugiesisch, Spanisch, Französisch und Englisch.