Was Führungskräfte über introvertierte Mitarbeiter wissen sollten

Interview mit Kathrin Gillner

Wer selbstsicher auftritt, hat solide Karrierechancen. Hingegen geraten leise Typen oft ins Hintertreffen. Zu Unrecht, weiß Kathrin Gillner. Die Psychologin unterstützt introvertierte Menschen online dabei, sich treu zu bleiben und entschlossen für sich einzustehen. Im Interview mit Susanne Kleiner erklärt sie, wie Führungskräfte die Stärken in sich Gekehrter erkennen und fördern. Und sie plädiert dafür, das Schubladendenken zu überwinden.

Gehen Introvertierte in der Berufswelt unter?
Introvertiert sein wird gern mit Schüchternheit verwechselt. Dann heißt es: „Der sagt ja kaum etwas“, „Die traut sich wohl nicht“ oder „Er ist zu arrogant“. Ruhigere Menschen sind teilweise schwer einzuschätzen. Sie sagen nicht unmittelbar, was sie denken. Extrovertierten gelingt es leichter, Kontakt aufzunehmen und mit anderen ins Gespräch zu kommen. Doch nicht alle Intros sind gleich. Viele unterhalten sich gerne, vor allem in kleineren Gruppen, im vertrauten Umfeld oder in 1:1-Begegnungen. Bemerkenswert ist: Wer zurückhaltend wirkt, kann so kommunikativ wie Extros sein und souverän auftreten. Das unterschätzen viele. In unserer Kultur wird immer mehr geredet und immer weniger zugehört. Wer das Wort ergreift, geht als Gewinner vom Platz. Ja, wer es lieber ruhig und weniger selbstdarstellerisch mag, läuft Gefahr unterzugehen.

Was zeichnet Introvertierte aus und welche Bedürfnisse haben sie?
Introvertierte sind gute Zuhörer, denken analytisch, arbeiten beharrlich und können sich gut in andere hineinversetzen. Sie sind eher intrinsisch motiviert und verfolgen Ziele aus eigenem Antrieb. Sie fokussieren sich mehr auf die Sache als auf ihre Außenwirkung. Und sie beurteilen Risiken umsichtig und differenziert. Small Talk ermüdet oder langweilt sie. Sie schätzen Inhalte mit Tiefe. Also hören sie aufmerksam zu und reflektieren Informationen und Sachverhalte umfassend. Das erklärt, warum sie manchmal in sich gekehrt wirken oder langsamer antworten. Doch stillere Gemüter sind durchaus gern in Gesellschaft. Sie pflegen Beziehungen intensiv. Danach ziehen sie sich zurück, um in der Ruhe ihren Akku wieder aufzuladen.

In welchen Situationen kommen Introvertierte auf Sie zu?
Menschen, die sich in einer stark extrovertierten Welt nicht verstanden oder gesehen fühlen, suchen ein verständnisvolles und ermutigendes Gegenüber. Sie sind erschöpft, weil sie oft zu sehr damit beschäftigt sind, die Anforderungen anderer zu erfüllen. Männer und Frauen konsultieren mich online auch, um ihre sozialen Kompetenzen zu trainieren. Wir erarbeiten gemeinsam, konstruktiv Feedback zu geben oder ressourcenaktivierend mit Kritik umzugehen. Oder Leistungsdruck, Prüfungs-, Präsentations- oder Versagensangst sind das Thema. Andere holen sich virtuell Hilfe nach Hause, um wichtige Termine vorzubereiten, Entscheidungen zu treffen, oder private und berufliche Konflikte zu besprechen. Oft suchen meine Klienten auch einen Weg aus Grübelschleifen. Sie holen sich Impulse und Input, um Selbstzweifel, soziale Isolation oder Schlafprobleme zu überwinden.

 

"Eine gute Chefin oder ein guter Chef fragt in sich gekehrte Kräfte gezielt nach deren Meinung"

 

Was empfehlen Sie Führungskräften, die mit Introvertierten zusammenarbeiten?
Die direkte Ansprache ist essenziell. Eine gute Chefin oder ein guter Chef fragt in sich gekehrte Kräfte gezielt nach deren Meinung. Es ist ratsam, den Stillen Raum zum Nachdenken zu geben und sie achtsam zum Reden zu ermutigen. Arbeitgeber gewinnen introvertierte Talente, wenn sie Arbeitsplätze einrichten, die Stille garantieren. Auch Ruhezonen oder die Kaffeeküche für zwanglose Begegnungen sind für Menschen mit feinen Antennen ein Segen. Nicht zu vergessen: Zurückhaltende Charaktere haben oft sehr gute Ideen und behalten sie leider für sich. Eine respektvolle persönliche Frage diesbezüglich oder eine Plattform für Verbesserungsvorschläge können Mut machen. Richtungsweisend ist außerdem eine wertschätzende Unternehmenskultur, die nicht automatisch die Lautesten zu Gewinnern erklärt.

Und was raten Sie Introvertierten, wenn es darum geht, im Job anerkannt zu werden und sich gleichzeitig treu zu bleiben?
Wer gelernt hat, konstruktiv Feedback zu geben und sich in einem passenden Rahmen mitzuteilen, öffnet und behauptet sich wesentlich leichter. Respektfördernd ist es auch, Belastungsgrenzen wahrzunehmen und sie zu thematisieren; die innere Stimme zu hören und auf das Bauchgefühl zu achten. Für mich steht fest: Introvertierte dürfen sich ihrer Stärken mehr bewusst werden. Es geht darum, das zu akzeptieren und zu schätzen, was sie besonders macht. Wer sich mit seiner Wesensart identifiziert, stabilisiert seinen Selbstwert und stärkt das Selbstvertrauen. Wer authentisch bleibt und sich aus der Komfortzone traut, wächst persönlich und beruflich.

Ihre Botschaft zum Schluss?
Ich erlebe es immer wieder, dass Intros sich nicht ihrer Persönlichkeitsausrichtung bewusst sind und sich wünschen, jemand anderes zu sein. Für mich ist es sehr erfüllend, dass Menschen in wenigen Online-Sessions lernen, zu sich zu stehen. Introvertierte bringen Kompetenzen und Ressourcen mit, die viele Unternehmen noch nicht für sich nutzen. Es gibt Stellen, die ausdrücklich besser für Intros geeignet sind. Hier hilft es, das Jobprofil passgenau, verständlich und zugewandt zu formulieren. Meine Botschaft ist: Diversität im Geschäftsleben zu bejahen, bedeutet auch, als Arbeitgeber auf Introvertierte einzugehen, um gemeinsam eine Win-Win-Situation zu gestalten

 

Über die Interviewpartnerinnen:

Kathrin Gillner
Psychotherapeutin, 
Psychologin und psychologische
Online-Beraterin. 
www.kathrin-gillner.com

Susanne Kleiner
Kommunikationsexpertin, Autorin,
Texterin, Trainerin und Coach. 
www.susanne-kleiner.de