Die glühende Akte - Ein Plädoyer für die Burn-Out-Prophylaxe in der Anwaltskanzlei

von Anne Grisstede, Führungskräfte-Coach und Inhaberin von „meinding Rostock"

Die rechtsanwaltliche Tätigkeit ist von einem hohen Erwartungsdruck durch Mandanten, Kollegen, Gerichte, Vorgesetzte und das private Umfeld gekennzeichnet. Hinzu kommen eine Fülle an unterschiedlichen Fallgestaltungen und eine Masse an Akten, die vom Einzelnen oft nur schwer zu bewältigen sind. Der hohe Leistungsanspruch an sich selbst trägt der Verantwortung gegenüber dem Mandanten ebenso Rechnung wie die obligatorischen Weiterbildungen. Für Selbstständige kommt die Akquise-Arbeit hinzu und abhängig vom wirtschaftlichen Erfolg macht so manch ein Kollege auch die Buchhaltung noch selbst. Dabei gilt es, niemals Schwäche zu zeigen, stets sinnbringende Antworten parat zu haben und Souveränität auszustrahlen. Kurz und gut: Der Job ist in jeder Hinsicht anstrengend. Fehler – so glaubt man – werden nicht verziehen. Eine dauerhaft hohe Stressresistenz muss jeder Anwalt mitbringen, um seinem Job ohne finanzielle oder gesundheitliche Einbußen gewachsen zu sein.

Was passiert, wenn der Stress zur Belastung wird? Die Symptome kennt jeder Kollege: Die NJW wird noch nicht mal mehr überflogen. Rechtsprechung wird nicht mehr recherchiert. Der Erholungseffekt des Urlaubs dauert maximal drei Tage an. Gereiztheit und Verspannungen gehören zum Alltag. Unkonzentriertheit, Fehler und Unsicherheit folgen. Am Ende des Tages sind noch zu viele Wiedervorlagen oder – schlimmer noch – Fristen übrig. Die Liste könnte von jedem von Ihnen fortgesetzt werden. Und dann entsteht sie: „Die glühende Akte“.

Das ist eine Akte, deren reine Existenz ihrem Bearbeiter die Schweißperlen auf die Stirn treibt. Den Aktendeckel zu öffnen, bedeutet, sich die Finger zu verbrennen. Und mangels feuerfester Handschuhe – bzw. professioneller Lösungen im Umgang mit dem Phänomen – bleibt die Akte geschlossen. In der Regel handelt es sich um einen Standardfall – rechtlich nicht allzu schwierig und sachlich nicht allzu kompliziert. Zunächst ist sie ein harmloser Fall, der aus einem unscheinbaren Grund liegen geblieben ist. Anderes ist wiederholt dringlicher oder wichtiger. „Noch brennt da nichts an.“, denkt sich der Bearbeiter und lässt sie sich erneut eine Woche später vorlegen. Doch ab irgendeinem Zeitpunkt wird sie zur Belastung. Die frühere Kleinigkeit wird zu einem großen Hindernis. Sie versetzt den Bearbeiter nun in Angst oder es ist zumindest sehr unangenehm. Die Akte bleibt liegen. Tag für Tag und Woche für Woche, Monat für Monat findet der Bearbeiter neue Gründe, die Akte nicht anzufassen. Irgendwann droht dieser Fall sogar zum Haftungsfall zu werden.

Wenn Sie diese Erfahrung gemacht haben, sind Sie in bester Gesellschaft. Die meisten Anwälte waren oder sind davon betroffen. Auch wenn darüber in unserer Branche nicht gesprochen wird. Das Phänomen ist ein Tabu-Thema, dem sich die meisten Kanzleien nicht stellen. Auch wenn Sie gemeinsam beim Mittagessen die Existenz einer glühenden Akte auf Ihrem Schreibtisch verlachen werden: In jeder Kanzlei gibt es sie. Das ist es, was man feststellt, schaut man hinter die Kulissen. Und wie bei einem echten Feuer sind die glühenden Akten wie ein Schwelbrand, der unbemerkt auf die ganze Kanzlei übergreifen kann. Der Bearbeiter gibt seinen Druck an Mitarbeiter und Kollegen weiter. Seine Arbeitsqualität und die Produktivität leiden massiv. Dabei gilt: Je länger die Akte eines Anwalts glüht, umso mehr nimmt seine Leistungsfähigkeit ab. Jede einzelne davon bindet Arbeitsenergie für eine Vielzahl von Akten. Denn das ungute nagende Gefühl, sie nicht erledigt zu haben, bleibt während der übrigen Arbeit vorhanden. Es wird mit in die Pause genommen und nach Hause.
Eine Erholung in der arbeitsfreien Zeit erfolgt höchstens eingeschränkt. Wie das Damokles-Schwert hängt die glühende Akte über dem Bearbeiter.

Mit der Leistungsfähigkeit des Anwalts verdient die Kanzlei ihr Geld. Und eben diese Leistungsfähigkeit wird durch die glühende Akte nachhaltig gestört. Der Ruf der Kanzlei wird gefährdet. Die Mandantenbindung leidet, denn der Mandant wird immer wieder vertröstet. Die Kanzlei zahlt mit unzufriedenen Mandanten und einer unnötig hohen Fehlerquote – letztlich also mit Umsatz dafür.
Der einzelne Kollege zahlt mit einer kürzeren Lebenserwartung. Denn dauerhafter Stress schlägt sich in der Gesundheit nieder. Ein schleichender Prozess, der für alle Beteiligten schädlich ist.
Der kluge und vorausschauende Anwalt setzt von vornherein auf Prophylaxe. Spätestens aber wenn die erste Akte glüht, sollte der Entscheidungsträger in der Kanzlei aktiv werden.

Die äußeren Umstände (u. a. Bürostruktur, Selbstorganisation, kollegiales Miteinander) bergen oft bereits Optimierungspotential.
Die Psyche (z. B. Arbeitseinstellung, Resilienz, Motivation) bedarf einer umfassenden Schulung und Stärkung. Völlig unbeachtet bleibt zu häufig der Zusammenhang mit der geistig-körperlichen Leistungsfähigkeit (bspw. Konzentration, Energie, Schlafgewohnheiten und Ernährung). Das Zusammenspiel dieser drei Ebenen ist ausschlaggebend für die Leistungsfähigkeit des Anwalts. Die gute Burn-Out-Prophylaxe entwickelt ein für den einzelnen Anwalt und die einzelne Kanzlei individuelles Konzept, das alle drei Ebenen mit einschließt. Gleichzeitig befähigt sie alle Beteiligten, sich zukünftigen Veränderungen mit individuellen Mitteln optimal zu stellen. Glühende Akten gehören dann der Vergangenheit an. Gut gecoachte Anwälte erkennen nicht nur Stressfaktoren, sie sind auch gewappnet.

Quelle NJW 20/2017