Rechtsreferendariat: Wohin in der Wahlstation?

Spätestens wenn die Lerngruppen-Kollegin direkten Schriftverkehr mit den Vereinten Nationen zu pflegen beginnt oder der Repetitoriums-Sitznachbar Bilder seines Büros unter Palmen auf Facebook postet, wird es auch zurückgezogenen Naturen deutlich: Die Wahlstation ist ganz offenbar – nach dem Schüleraustausch in der gymnasialen Oberstufe und dem «Erasmus-Sabbatjahr» – die dritte Sollbruchstelle im juristischen Standardlebenslauf.

Wahlstation: Was tun mit dieser Freiheit?

Doch was tun mit dieser Freiheit? Soll diese letzte der Stationen nun genutzt werden, um in den Anwaltsstationen geknüpfte Kontakte in trockene Tücher zu bringen, oder doch als exotisches «Rollenspiel», bevor es unwiderruflich in die Tretmühle der Großkanzleien, das Klein-Klein der Wirtschaft oder die entrückten Weiten des Berufsbeamtentums geht?

Dieser Beitrag kann freilich niemandem die Entscheidung abnehmen – doch möchte er auf einige Beobachtungen aufmerksam machen und so die Entscheidungsfindung erleichtern.

Die Wahlstation als erneute Station beim Wunscharbeitgeber

Auf den ersten Blick ist es der naheliegendste Weg: Die Anwaltsstation hat sich als wahrer Glücksgriff  erwiesen, und sowohl Ausbildungsleiter als auch Referendar/in denken über eine weitere Zusammenarbeit nach.

Sollte man sich vor diesem Hintergrund nicht gut mit dem zukünftigen Arbeitgeber stellen und versuchen, sich in dessen Kanzlei nicht auch in der Wahlstation unentbehrlich zu machen? Freilich – falls man sich in der Tat ausschließlich für diese Tätigkeit interessiert, falls der Ausbildungsleiter ausdrücklich ein Engagement auch in der Wahlstation wünscht, oder falls man aus anderen Gründen ortsgebunden ist, spricht nichts gegen diesen Weg.

Und tatsächlich gibt es durchaus Fälle, in denen Referendare frühzeitig und eigenverantwortlich mit viel Erfolg in große Projekte eingebunden werden – mit der Folge, dass der Referendar bereits in der Wahlstation tatsächlich «unentbehrlich» geworden ist (und selbstredend auch meistens übernommen wird).

Doch ist dies ebensowenig die Norm, wie es Zweck der Wahlstation ist. Im Regelfall reicht die Länge der Anwaltsstation(en) aus, um Referendar und Ausbilder ein umfassendes Bild voneinander zu verschaffen.

Ist dies für beide Seiten ausreichend positiv, um ernsthaft über eine anschließende Festanstellung nachzudenken, wird auch eine Wahlstation andernorts (soweit sie nicht bei der unmittelbaren Konkurrenz absolviert wird) nichts daran ändern. Und auch eine gute rein regional ausgerichtete Kanzlei wird die Erweiterung des Horizonts, welche eine «fachfremd» absolvierte Wahlstation für den Referendar bewirkt, in den meisten Fällen stärker zu schätzen wissen als die «Treue» und den wirtschaftlichen Gewinn, den eine weitere drei- bis viermonatige Tätigkeit des Referendars in gleicher Funktion für die Kanzlei schöpft.

Dem Argument, dass man sich über eine Absolvierung auch der Wahlstation beim Wunscharbeitsgeber eine anschließende Anstellung sichern kann, ist daher mit Vorsicht zu begegnen.

Die Wahlstation in der Großkanzlei

Auch hierbei handelt es sich um ein beliebtes Schema: Man weiß sicher, dass man als Anwalt arbeiten möchte, doch weniger, ob auch die Arbeit in einer Großkanzlei zu einem passt.

Nachdem die Anwaltsstationen in örtlichen Kanzleien gemäßigten Zuschnitts absolviert wurden, möchte man die Wahlstation als «Großkanzlei-Testlauf» nutzen, um daraufhin klarer zu sehen – und hätte dann, falls das Modell doch nicht konveniert, zumindest die Erfahrung mitgenommen (und in den meisten Fällen zudem noch etwas Geld).

Und tatsächlich: Der  Arbeitsalltag  eines Referendars wird sich in den allermeisten Fällen von dem eines First-year-Associate kaum unterscheiden, so dass sich dem Referendar in der Tat ein authentisches Bild dessen bildet, was sich ihm – falls beide Seiten möchten – bereits  wenige Monate oder (bei früher mündlicher Prüfung) gar Wochen als ständiger Alltag bieten könnte. 

Hierin liegt jedoch auch ein gewisser Zirkelschluss: Ist man juristisch «gut genug dabei», um als Wahlstations-Referendar von einer Großkanzlei angenommen zu werden, stehen die Chancen sehr gut, dass man auch im Anschluss an das (erfolgreiche) Mündliche direkt als Associate von dieser Kanzlei angestellt  werden würde, ohne dort die Wahlstation absolviert zu haben.

Es stellt sich daher die Frage, wieso solche Erfahrungen in der Wahlstation zu einem Bruchteil der Vergütung gesammelt werden sollen, die man wenig später als «echter» Associate für eine nahezu identische Tätigkeit erhält.

Bringt man das nötige Rüstzeug mit, um in einer Großkanzlei beschäftigt zu werden, spricht zwar viel dafür, dies zu nutzen, denn diese Gelegenheit bietet sich tatsächlich (höchstwahrscheinlich) nur zu  diesem Zeitpunkt.

Doch man sollte dann ernsthaft erwägen, gleich «Nägel mit Köpfen» zu machen, d.h. noch ein wenig zuzuwarten und Großkanzleiluft dann als echter und voll bezahlter Associate zu schnuppern: Aus nichts lässt sich schließlich später so leicht und schlüssig bei anderen Arbeitgebern be werben wie aus einer Großkanzlei-Festanstellung.

Den Makel eines frühen Ausstiegs (sofern dieser nicht nach weniger als sechs Monaten erfolgt – dieser Unterschied besteht im Vergleich zur Wahlstation sehr wohl) gegenüber Folgearbeitgebern braucht man m.E. nicht zu fürchten.

Diese werden in fachlicher  Hinsicht sehr häufig die Erfahrung eines «echten» Associates einer Wahlstationserfahrung vor ziehen – und persönlich eventuell sogar den selbstbestimmten Abschied aus der Großkanzleiwelt sehr viel stärker honorieren als aufgrund automatischen Ausscheidens nach Stationsende.

Falls der Wunsch tatsächlich besteht, einmal eine Großkanzlei auszuprobieren, sollte die Nutzung der Wahlstation hierfür m.E. daher gut überlegt werden – für Kleinmut sollte hier kein Platz sein.

Die Wahlstation als direkte Vorbereitung für den Wunschberuf

In vielen Fällen kommen in der Praxis der vorangehenden Stationen gewisse Aspekte der eigenen Spezialisierung zu kurz, vor allem mangels internationaler Sachverhalte.

Nichts liegt anscheinend näher, diese Lücke durch eine entsprechende Tätigkeit in der Wahlstation zu füllen – und doch lohnt auch hier ein zweiter Blick: Natürlich sollte man grundsätzlich die möglichen Nutzen einer Wahlstation für die spätere Berufswahl nicht völlig ausblenden. Entscheidend ist jedoch auch hier die Motivation: Möchte man allein deswegen eine bestimmte Wahlstation absolvieren, um seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, sollten gute Kandidaten innehalten: Wurden bereits Kontakte zu möglichen zukünftigen Arbeitgebern geknüpft, sollte abgeklärt werden, für wie wesentlich diese eine Wahlstation dort tatsächlich erachten. Denn stärker noch als in anderen Stationen sind in der Wahlstation situationsbedingt das genaue fachliche Aufgabenspektrum, das Maß der Eigenverantwortung, die Arbeitsbelastung insgesamt und die Relevanz der zugewiesenen Aufgaben von einer gewissen Willkür geprägt; die tatsächliche fachliche «Wertschöpfung» lässt sich für den Arbeitgeber im Vorfeld ebenso wenig einschätzen, wie sie sich nach Absolvierung objektiv bewerten lässt (zumal das Stationszeugnis im Gegensatz zu den anderen Stationen bei nicht- anwaltlichen Wahlstationen häufig nicht von Ausbildungsleitern verfasst wird, die mit dem Bewertungssystem der deutschen juristischen Ausbildung vertraut sind).

Nüchtern betrachtet belegt eine solche Station aus Arbeitgebersicht in erster Linie ein vertieftes Interesse an der Thematik und – bei sehr nachgefragten Stationen – den Erfolg bei der Bewerbung um die Annahme als Referendar, nicht jedoch die tatsächliche fachliche Qualifikation/Praxis. 

Sehr gute Kandidaten, denen es in erster Linie um eine fachlich sinnvoll genutzte Auslandserfahrung geht, sollten sich – und zukünftigen Arbeitgebern – zudem die Frage stellen, ob nicht später ohnehin die Möglichkeit eines Secondments oder einer Abordnung an die entsprechende Einrichtung besteht (oder vielleicht sogar ohnehin vorgesehen ist).

In diesem Fall gelten die gleichen Erwägungen wie im vorigen Abschnitt: Es stellt sich die Frage, wieso die Wahlstation auf eine Tätigkeit zu verwenden ist, für welche man später volles Gehalt (samt 
 Tagesgeldpauschalen) durch die Wirtschaftskanzlei/das Unternehmen/den Staat erhält und die dort zudem «Laufbahnpunkte» bringt?

An Möglichkeiten, sich fachlich später außerorts weiterzubilden, wird es nicht mangeln, zumal die innerbetriebliche Konkurrenz um diese Posten mit steigendem Alter im Regelfall abnimmt (was für den Kandidaten natürlich in gleichem Maße gilt; mit einer Schar Kinder daheim verliert ein Jahr im Ausland viel von seinem anfänglichen Reiz).

Wahlstation und LL.M.

Die Wahlstation ist zunächst einmal Chance für einen längeren mehr oder weniger selbstbestimmten Auslandsaufenthalt.

Die Möglichkeit, sich juristisch und auf hohem Niveau an einem ausländischen Standort seiner Wahl fortzubilden, bietet neben der Wahlstation jedoch auch ein LL.M., der zudem eine ganze Reihe weiterer Vorzüge aufweist: Zum einen gewährt er durch die sehr viel längere Dauer eine sehr viel stärkere Verwurzelung mit dem Gastland, die zumindest auf fachsprachlichem Gebiet eine echte und auch entsprechend anerkannte Weiterqualifizierung bewirkt.

Da zudem die Finanzierung – im Unterschied zur Wahlstation – vom Studenten selbst aufgebracht werden muss, wird sich der Kandidat sehr viel professioneller mit Vorbereitung, Absolvierung und Abschluss eines solchen Studiengangs befassen als mit einer Wahlstation. Das heute kaum noch übersehbare Angebot an LL.M.-Studiengängen weltweit gewährleistet zudem, dass selbst wählerische Naturen nach entsprechender Recherche fündig werden können; selbst für einen LL.M. in ausgesprochenen Nischendisziplinen kann häufig zwischen Dutzenden Programmen gewählt werden.

Nicht zuletzt gehört zumindest in Großkanzleien der LL.M.-Titel (als Ergänzung zum häufig bereits obligatorischen Dr. iur.) mittlerweile oft zur «vollen Kampfmontur» und kann daher einen echten Wettbewerbsvorteil darstellen.

Einen Aspekt bietet der LL.M. im Vergleich zur Wahlstation jedoch nicht: Gleich welcher Zuschnitt gewählt wurde, es handelt sich immer um ein Lernen und Arbeiten im akademischen Milieu, gewissermaßen um eine Verlängerung der Studienzeit (wenn auch – als Studium in einer Fremdsprache und fern der Heimat – um ein Studium unter sehr viel fordernderen Bedingungen). Immer handelt es sich um eine (in vielen Fällen westliche) Universitätsstadt, und die häufig recht verschulten Programme bieten deutschen Juristen nicht selten eben jenes Lehrstück in ECTS-Sammeln und Modulbau à la Bologna, die einem die deutsche 
 Juristenausbildung bislang erspart hatte.

Mit anderen Worten: Aus Sicht des juristischen Vorbereitungsdiensts ersetzt der LL.M. ein recht starres Schema durch ein anderes, und so sehr er als echte Fortbildungsmaßnahme grundsätzlich zu empfehlen ist – an das volle Potential einer Wahlstation kommt er nicht  heran.

Die Wahlstation als  einmalige Chance

Doch was hat es nun schließlich mit diesem Potential auf sich? Der «unique selling point» der Wahlstation besteht in ihrer Qualität als «Freibrief» für das drei- bis viermonatige Ausprobieren einer juristischen Tätigkeit jeglicher Art, und zwar weltweit.

Und dies ist in der Tat einzigartig: Zwar bieten Secondments, Abordnungen, besagter LL.M. und nicht zuletzt die allgemeine Globalisierung selbst auch im späteren Berufsleben mannigfaltige Chancen, im Ausland zu leben und zu arbeiten.

Doch auf die nächste Gelegenheit, drei bis vier Monate lang bei voller Absicherung auf einem fremden Erdteil etwas zu tun, wovon man an sich keinen blassen Schimmer hat (und für das man sich auch nirgends rechtfertigen muss, sondern im Gegenteil Pluspunkte sammeln kann), wird man wohl lange warten müssen.

Es geht hier nicht allein um den Spaßfaktor, den ein solcher Sprung ins Ungewisse bringt, zumal es an Arbeit an den meisten exotischen Wahlstationsstellen nicht mangelt: Je exotischer der Posten, desto länger ist es im Regelfall her, dass der letzte Referendar dort war; und da es meistens keine anderen Volljuristen vor Ort gibt, hat sich nicht selten Arbeit aufgetürmt.

Vielmehr geht es um den «kompletten Tapetenwechsel», der nicht nur den Kopf freischafft vom Klausurenschreiben und dem Lernmarathon der vergangenen Monate (und Jahre), sondern gerade bei Kandidaten, die hinsichtlich ihres weiteren Werdegangs noch unentschieden sind, eine Zeit kritischer Distanz bietet, nach welcher man nicht selten klarer sieht.

Die Größe dieser Distanz hängt vom Einzelfall ab: Es muss ja nicht gleich die Wahlstation in der deutschen Botschaft in Abuja oder in einer deutschen Anwaltsboutique in Bangladesch sein.

Distanz lässt sich bereits über Stationen in Ländern schaffen, mit deren Recht und Sprache man bis dahin nicht viel anfangen konnte; einen komfortablen Mittelweg können hier etwa Stationen in mittel- und osteuropäischen Kanzleien, Botschaften, Außenhandelskammern oder ähnlichen Einrichtungen bilden. Ich selbst z.B. bin für die Tallinner Niederlassung einer deutschen Kanzlei mit Mittel- und Osteuropaschwerpunkt tätig, und eine ganze Reihe von Referendaren bei uns, aber auch in Riga und Vilnius, haben mir berichtet, wie aufschlussreich, aber gleichzeitig vertraut die Arbeit an diesen familiär und doch international geprägten Büros ist.

Fazit zur Wahlstation

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die erneute Station beim Wunscharbeitgeber kann im Einzelfall eine genauso gute Idee sein wie die Wahlstation in der Großkanzlei oder im Fokus des bereits gewählten Schwerpunkts.

Vorsichtig sollte man lediglich sein, die Wahlstation vorschnell zu instrumentalisieren und lediglich als Mittel zu anderen Zwecken auszunutzen, denn auf diese Weise wird das Potential dieser bemerkenswerten Einrichtung nicht recht ausgeschöpft. Mut zum Kontrapunkt bei der Stationswahl verschafft hingegen einen frischen Blick – nicht nur auf das Recht und seine Anwendung in ganz anderen, of kaum vorstellbaren Zusammenhängen, sondern oft auch auf sich selbst.

Eine gut gewählte Wahlstation setzt das Vermittlungsziel des Vorbereitungsdiensts, aus dem Stand ein unbekanntes juristisches Problem einer vertretbaren Lösung zuführen zu können, im echten Leben fort: Denn hier ist nicht lediglich der Sachverhalt unbekannt, sondern die gesamte Umwelt bildet echtes Neuland. Diese Erfahrung sollte man nicht grundlos missen.

 

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