Das Fachanwaltsgebiet des Versicherungsrechts – überraschende Vielfalt

von Jan-Rasmus Schultz, Diplom-Jurist und Promotionsstudent an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Ob PKW, Hausrat oder das eigene Leben – traditionell kann nahezu alles versichert werden. Derzeit ist jedoch nicht nur die Spanne der Versicherungsleistungen angewachsen, sondern auch die Anzahl der abgeschlossenen Versicherungsverträge insgesamt.

Laut Angaben des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. belief sich der Bestand an Versicherungsverträgen im Jahr 2015 auf 428,8 Millionen. Bereits in Anbetracht dieser enorm hohen Anzahl an Versicherungsverträgen erklärt sich die Existenz unzähliger Kanzleien, die sich auf das Versicherungsrecht spezialisiert haben.

Diese werden mit der Bearbeitung von Mandaten betraut, denen oftmals eine vergleichbar gelagerte Problemkonstellation zu Grunde liegt. So hat der Fachanwalt für Versicherungsrecht regelmäßig zu prüfen, ob der Mandant als Versicherungsnehmer Leistungen aus dem Versicherungsvertrag beanspruchen kann.

Für die Ermittlung des Bestehens solcher Ansprüche sind die allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen von maßgebender Bedeutung.

Die Grundlage des versicherungsrechtlichen Mandates

In den allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen sind neben den allgemeinen Vertragsdaten insbesondere die Voraussetzungen der Leistungsgewährung normiert.

Beauftragt der Mandant den Fachanwalt für Versicherungsrecht daher mit der Durchsetzung eines vermeintlich bestehenden Leistungsanspruchs, so ist der Fachanwalt auf die Vorlage der vertragsbezogenen allgemeinen und besonderen Versicherungsbedingungen angewiesen, um anhand derer prüfen zu können, ob der Anspruch tatsächlich besteht.

Regelmäßig kontaktiert der Fachanwalt für Versicherungsrecht hierfür den Versicherer, um diesen zu der Herausgabe sämtlicher vertragsbezogener Unterlagen inklusive etwaigen schriftlichen Änderungen aufzufordern. Liegen alle notwendigen Unterlagen vor, ist zu prüfen, ob das jeweilige Begehren des Mandanten als Leistungsgewährungsanspruch im Sinne der Vertragsbestimmungen qualifiziert und daher gegenüber dem Versicherer beansprucht werden kann.

Der Ablauf des versicherungsrechtlichen Mandates

Zwar ist die Frage, ob dem Mandanten gegenüber dem Versicherer ein Anspruch auf Gewährung oder Erstattung bestimmter Leistungen zusteht, gelegentlich strittig und daher Gegenstand des Mandates. In der überwiegenden Anzahl aller Fälle ist das Bestehen eines solchen Anspruches dem Grunde nach jedoch unstreitig.

Der Schwerpunkt des Mandates besteht in derart gelagerten Fällen vielmehr darin, den Anspruch des Mandanten auch in der entsprechenden Höhe durchzusetzen. Beispielhaft seien an dieser Stelle versicherungsrechtliche Streitigkeiten genannt, die im Rahmen der Schadensregulierung nach einem PKW-Unfall entstehen.

Entscheidend für das Bestehen und vor allem die Höhe eines Schadensersatzanspruches ist der Grad des Verschuldens der Beteiligten an dem jeweiligen Unfallgeschehen. Im Rahmen der Bearbeitung des versicherungsrechtlichen Mandates ist der Fachanwalt daher regelmäßig mit der Problemstellung konfrontiert, den Grad des Verschuldens seines Mandanten darzulegen und nachzuweisen.

Denn der Unfallgegner beziehungsweise dessen Versicherer wird in der Regel ein sogenanntes Mitverschulden des Mandanten als Unfallgeschädigtem einwenden, das zu einer Minderung des Schadensersatzanspruches führen würde, wenn dem nicht substantiiert entgegengetreten wird.

Der Ablauf eines versicherungsrechtlichen Mandates besteht demnach vor allem darin, das Unfallgeschehen anhand von Zeugenaussagen und Sachverständigengutachten zu rekonstruieren und auf Grundlage dessen den Grad des Verschuldens der Beteiligten ermitteln zu können.

Die Verletzung versicherungsrechtlicher Obliegenheiten

Den zweiten Schwerpunkt der Tätigkeit eines Fachanwalts für Versicherungsrecht bilden die versicherungsrechtlichen Obliegenheiten. Diese bestehen aus gesetzlichen oder vertraglichen Verhaltenspflichten, die der Versicherte erfüllen muss, um den vereinbarten Versicherungsschutz beanspruchen zu können.

Zwar sind Obliegenheiten weder einklagbar noch begründet ihre Verletzung einen Schadensersatzanspruch. Dennoch ist eine Obliegenheitsverletzung für den Versicherten folgenschwer, da im ungünstigsten Fall der Versicherungsschutz vollständig versagt werden kann. Gesetzliche Obliegenheiten sind in dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG) enthalten und bestehen etwa aus der vorvertraglichen Anzeigepflicht (§§ 16-22 VVG) oder der Obliegenheit zur Anzeige eines Versicherungsfalls (§ 33 VVG).

Vertragliche Obliegenheiten können individuell vereinbart werden und unterliegen der Kontrolle nach § 307 BGB. Rügt der Versicherer daher einen Verstoß gegen vertragliche Obliegenheiten, der gemäß § 28 VVG zu einer Kündigung des Vertrags, wenigstens jedoch zu einer Kürzung des Leistungsanspruchs führen kann, so hat der Fachanwalt zu prüfen, ob die Obliegenheitsklausel wirksam ist oder aber den Versicherten unangemessen benachteiligt.

Die Vorzüge des Versicherungsrechts

Zwar erfordert die Tätigkeit als Fachanwalt für Versicherungsrecht sowohl die genaue Kenntnis der einschlägigen Rechtsnormen und der einschlägigen Judikatur als auch ein Höchstmaß an Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit bei der Ermittlung sämtlicher dem Mandat zu Grunde liegender Umstände. Dafür entschädigt es regelmäßig mit überdurchschnittlich hohen Streitwerten sowie dem Umstand, dass hinter jedem Mandat eine neue individuelle Lebensgeschichte steht, die nie Langeweile aufkommen lässt.

Foto oben: Thomas Aumann/stock.adobe.com

Hier können Sie die NJW, die führende Fachzeitschrift für Juristen mit den wichtigsten Neuigkeiten aus der ganzen Welt des Rechts, kostenlos testen.

Quelle BECK Stellenmarkt 6/2017