Gutachten über etwas Sprachliches – wer braucht denn sowas?

von Dr. Isabelle Thormann, öffentlich bestellte und vereidigte (ö.b.u.v.) Sachverständige für das Sachgebiet Beurteilung von sprachlichen Produkten und Wirtschaftskommunikation Deutsch und Englisch

Für Schäden an Gebäuden, die Ermittlung des Werts einer Immobilie oder eines Fahrzeugs oder für die Frage, wie lang ein Bremsweg war, braucht man Experten (und Expertinnen1). 2 Auch für die Feststellung, ob Spielplatzgeräte sicher sind, für die Bewertung eines Gemäldes oder die Frage, ob es sich um eine Fälschung handelt oder nicht. Aber Sprache? Texte?

Bei der obigen Frage, ob es sich bei einem Gemälde um eine Fälschung handelt, nähern wir uns dem Thema bereits. Verfasser von Erpresserbriefen beispielsweise „fälschen“. Sie „verfälschen“ ihren „Idiolekt“ (der individuelle Sprachgebrauch), sie verstellen sich, damit sie nicht identifiziert und überführt werden. Hier kann ein Experte helfen, der sich auskennt mit

• Autorenbestimmung … oder modern-deutsch „Täter-Profiling“

∘ Eine Chemie-Fabrik wird (von einem Mitarbeiter) erpresst: Wenn nicht ein bestimmter Betrag gezahlt wird, fliegt das gesamte Werk in die Luft. Hilfreich wäre, den anonymen Erpresser per Autorenbestimmung durch Vergleich des Erpresserschreibens mit anderen Texten zu identifizieren.
∘ Jemand behauptet, er habe ein von einem Verstorbenen verfasstes Testament gefunden und nun änderten sich die Erbansprüche (z. B. zu seinen Gunsten).
∘ Jemand versucht, ein Unternehmen im Internet durch „Business-Mobbing“ zu verleumden, und lässt sich nicht über die IP-Adresse festmachen.

Auch auf andern Gebieten werden Linguisten gebraucht, wenn es beispielsweise geht um …

• Übersetzungen

∘ Stellen Sie sich vor, ein Medikamentenhersteller in einem englischsprachigen Land lässt die Beipackzetteltexte ins Deutsche übersetzen, und die Übersetzung ist fehlerhaft. Das kann lebensgefährlich sein. Es ist u. a. festzustellen, ob Anspruch auf Schadensersatz besteht und ob derselbe Übersetzungsdienstleister zur Nacherfüllung fähig ist.

• die Werbewirksamkeit von Texten, Korrektoratsleistungen

∘ Jemand hat sich von einem Dienstleister Werbetexte formulieren und sie auf teure Hochglanzprospekte für eine Messe drucken lassen, die Texte sind jedoch nicht werbewirksam und/oder enthalten Fehler. Der Auftraggeber strebt Schadensersatz an.

• Sprachkenntnisse, Sprachstand, die Qualität von Sprachunterricht

∘ Ein Arbeitgeber hatte bei der Einstellung eines Mitarbeiters „verhandlungssichere“ Sprachkenntnisse in Englisch zur Bedingung gemacht; der Mitarbeiter versagt jedoch in einer entsprechenden Situation mit einem wichtigen Kunden. Hat der Mitarbeiter bei der Einstellung seine Sprachkenntnisse falsch angegeben, oder gab es andere Gründe, dass die Kommunikation nicht erfolgreich war?
∘ Es ist festzustellen, ob die Kommunikation zwischen einem Richter eines Betreuungsgerichts und einem Behinderten oder jemandem mit einem bestimmten Grad an Autismus so weit möglich ist, dass eine Befragung zur rechtlichen Betreuung möglich ist.
∘ Bevor jemand beeidigter bzw. ermächtigter Dolmetscher und Übersetzer werden kann, muss er seine Sprachkenntnisse nachweisen. Dafür gibt es den sogenannten „gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen“3 mit verschiedenen Stufen und entsprechende Prüfungen und Zertifikate.
∘ Ein Arbeitgeber hat einen Mitarbeiter zu einer privaten Sprachschule geschickt, um ihn für einen internationalen Kongress „sprachlich fit“ zu machen und beispielsweise ein bestimmtes Produkt zu verkaufen oder ein Verfahren zu erklären, der Mitarbeiter ist jedoch nicht erfolgreich. Waren die Umstände widrig, oder war eventuell der Sprachunterricht mangelhaft?

Hier können Sprach-Sachverständige helfen, die sich auskennen mit Ambiguität, Authentizitätsbewertung, Code/Register, Cyberkriminalität, Didaktik /Andragogik /Spracherwerbsforschung, mit Funktionsverbgefügen, Graphematik, Idiomatik, Metaphorik, Phraseologie, Interpunktion /Orthografie, mit Kohärenz/Kongruenz, Kollokationsanalyse/Konkordanzsoftware zur Korpusanalyse, Kontiguität, mit Lexikalisierung/Metonymie, Morphologie, Plagiatserkennung, Psycholinguistik, Rhetorik, mit Schreibdispositionen, Sequenzanalyse, Sprechakttheorie, Stilistik /Dialektologie, Synonymie, Textlinguistik, Hermeneutik, Translatologie etc.

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1   In diesem Artikel wird das generische Maskulinum für besseren Lesefluss verwendet. Selbstverständlich sind auch Mitarbeiterinnen, Linguistinnen, Richterinnen usw. gemeint.
2   Es gibt bundesweit ca. 15.000 öffentlich bestellte und vereidigte (ö.b.u.v.) Sachverständige, davon über 8600 in rund 280 wirtschaftsbezogenen Sachgebieten, die in einer bundesweiten Datenbank www.svv.ihk.de verzeichnet sind. Achtung: Wenn es um das juristische Dolmetschen und Übersetzen geht, kommt es oft zu Verwechslungen mit „allgemein beeidigten Dolmetschern“ und „ermächtigten Übersetzern“ oder „öffentl. best. u. (allg.) beeid.“ Dolm./Übers.“ (in den Bundesländern unterschiedlich), die in einer anderen Datenbank (für Justiz-Dolmetscher) verzeichnet sind.
3   Siehe http://www.europaeischer-referenzrahmen.de.

Quelle NJW 14/2016