Gesetzgeberische Gedankenspiele

von RA Wolfgang Jacobs, Geschäftsführer des Bundesverbandes öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger e.V. – BVS

Da hat sich der Gesetzgeber etwas Tolles einfallen lassen! Weil sich immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass es in Einzelbereichen der gerichtlichen Sachverständigentätigkeit Defizite gibt, hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz am 29. Mai 2015 den Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Sachverständigenrechts und zur weiteren Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ vorgestellt. Zuvor hatten die derzeitigen Regierungsparteien bereits in ihrem Koalitionsvertrag für diese 18. Legislaturperiode einen rechtspolitischen Handlungsbedarf festgestellt. Es geht darum, dass aufgrund der festgestellten Defizite und der geäußerten Kritik an mangelhaften Gutachten insbesondere in familienrechtlichen Sachen und bei medizinischen Gutachten das Problem hauptsächlich in der unzureichenden Qualifikation der herangezogenen Sachverständigen gesehen wird. Im Weiteren wird grundsätzlich kritisiert, dass die Gerichtsverfahren zu lange dauern, insbesondere dann, wenn ein oder mehrere Sachverständigengutachten benötigt werden.

Dass Gerichtsverfahren länger dauern, wenn ein oder sogar mehrere Sachverständigengutachten benötigt werden, liegt in der Natur der Sache. Hochqualifizierte Sachverständige, insbesondere solche mit einer ausgeprägten Spezialisierung, sind gefragt und daher mit Gutachtenaufträgen nahezu immer voll ausgelastet. Sich daraus ergebende Wartezeiten und damit bereits einhergehende zeitliche Verzögerungen im Prozessablauf können aber dem Sachverständigen nicht angelastet werden. Allenfalls wäre hier die Frage zu stellen, ob eine immer und ewig hinter den marktwirtschaftlich üblichen Honorierungssätzen deutlich hinterherhinkende Vergütung der gerichtlichen Sachverständigentätigkeit das ihre dazu beiträgt, die gutachterliche Tätigkeit für private Auftraggeber lukrativer und damit attraktiver zu machen.

Der nahezu unverändert übernommene Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz zur Änderung des Sachverständigenrechts wurde bereits am 16.09.2015 zum Regierungsentwurf, nachdem einen Monat zuvor die Dachorganisationen der Bestellungskörperschaften und der Bundesverband öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger – BVS in den von ihnen erbetenen Stellungnahmen kritisch zum Inhalt des damaligen Referentenentwurfes Stellung genommen hatten. Diese im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz offensichtlich unbeachtete Kritik wurde vom Bundesrat in seiner Sitzung am 06.11.2015 weitestgehend bestätigt. Die Präsidentinnen und Präsidenten der Landessozialgerichte appellierten zudem am 05.11.2015 in einer gemeinsamen Erklärung an den Gesetzgeber, auf die geplanten Änderungen des Sachverständigenrechts für sozialgerichtliche Verfahren zu verzichten. Nach ihrer Ansicht würden die beabsichtigten Änderungen, insbesondere die verpflichtende Anhörung zur Person eines Sachverständigen vor Erteilung eines Gutachtenauftrages, zu einer Verfahrensverlängerung führen, die die Präsidentinnen und Präsidenten der Landessozialgerichte für nicht vertretbar halten. Andere Stimmen aus der Richterschaft begrüßten hingegen die beabsichtigten Änderungen im Sachverständigenrecht.

Dass eine Anhörung der Parteien vor der Beauftragung eines Sachverständigen erfolgt, ist nichts Neues. Diese findet in der gerichtlichen Praxis auch heute bereits statt, wenngleich sie nicht zwingend durch den Gesetzgeber angeordnet ist.

Im Interesse eines unter zeitlichen wie auch inhaltlichen Gesichtspunkten effizient zu führenden Verfahrens suchen Gerichte mit den streitenden Parteien bei der Sachverständigenwahl nach Möglichkeit einvernehmliche Lösungen. Ein Gericht wird nur im Ausnahmefall gegen den Willen der einen oder möglicherweise beide Prozessparteien einen bestimmten Sachverständigen „durchdrücken“. Denn es kann gewiss sein, dass in diesem Falle mit verfahrenstaktisch motivierten Anträgen dagegen vorgegangen werden würde, was den Fortgang der gerichtlichen Auseinandersetzung ent- und nicht beschleunigt. Ob unter diesem Gesichtspunkt eine obligatorische Anhörung der Prozessparteien vor der Beauftragung des Sachverständigen den gewünschten Zweck herbeiführt, darf daher in Frage gestellt werden.

Eine Pflicht des Sachverständigen zur unverzüglichen Prüfung und Mitteilung von Interessenskonflikten und möglicherweise verfahrensverzögernder anderer Anlässe stellt auch kein Novum dar. Jede oder jeder auch nur halbwegs regelmäßig für Gerichte tätige Sachverständige – erst recht öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige – wissen, dass sie bereits jetzt von sich aus dieser Prüfungspflicht nachzukommen haben. Und wenn im Einzelfall der mit der gerichtlichen Sachverständigenpraxis nicht vertraute Wissenschaftler oder „Spezialist für ganz besonders seltene Fragestellungen“ vom Gericht benötigt wird, dann hat das Gericht diese oder diesen im sprichwörtlichen Sinne an die Hand zu nehmen, auf den für Sachverständige in den Prozessgesetzen bestehenden Pflichtenkatalog hinzuweisen und insbesondere auch dafür Sorge zu tragen, dass er nicht wegen verfahrenstaktischer „Spielchen“ einer oder mehrerer Prozessbeteiligter, die weder Interesse an einem beschleunigten Verfahrensfortgang noch an einer gerichtlichen Entscheidung überhaupt haben, untergeht.

Die bisherige „Soll“-Vorschrift der Zivilprozessordnung durch eine obligatorische Fristsetzung zu ersetzen, mag zwar im Einzelfall auch den einen oder anderen Sachverständigen dazu bewegen, zügiger das von ihm erwartete Gutachten zu erstatten. Eine derartige Regelung würde auch erreichen, dass mit Gutachtenaufträgen mehr als reichlich ausgelastete Sachverständige, aber auch solche mit einer verbesserungsbedürftigen Büroorganisation, sich möglichst umgehend nach Eingang des Gutachtenauftrages mit dem Gericht in Verbindung setzen und abklären, ob die vom Gericht vorgegebene Zeitschiene einzuhalten ist oder nicht. Aber auch dies stellt keine bahnbrechende Neuerung dar. Hauptberuflich tätige Sachverständige, die ihren Beruf so, wie es denn üblicherweise zu erwarten ist, ausüben, werden von sich aus immer einen engen Kontakt zum Gericht halten und dieses darauf hinweisen, wenn gesetzte Fristen nicht eingehalten werden können. Dennoch ist auch hier die Frage zu stellen, was für die Nichteinhaltung einer Frist ursächlich ist. Es kann in der Tat sein, dass der Sachverständige sein Büro organisatorisch nicht im Griff hat. Die Ursachen können auch mit einer hohen Arbeitsauslastung des Sachverständigen, sei es durch anderweitige Gerichtsaufträge oder private Gutachtenaufträge, zusammenhängen. Es können aber auch die bereits genannten Prozessbeteiligten sein, deren Interesse gerade nicht darauf gerichtet ist, dem Sachverständigen mit der Herausgabe von zur Gutachtenerstattung benötigten Unterlagen, der Bereitschaft zur Teilnahme an vom Sachverständigen angesetzten Orts- und Begutachtungsterminen oder anderweitig zuzuarbeiten, damit dieser das Gutachten möglichst schnell erstatten kann.

Ob nun tatsächlich das Gericht und die Parteien in der Lage sind, unter den genannten Voraussetzungen und insbesondere vor einer entsprechenden Abstimmung mit dem vom Gericht herangezogenen Sachverständigen den für die Gutachtenerstattung erforderlichen Zeitaufwand richtig einzuschätzen, ist ebenfalls zu bezweifeln. Es ist eher zu vermuten, dass die Praxis dazu führen wird, dass der dann herangezogene Sachverständige nach zunächst überschlägiger Schätzung des für die Gutachtenerstattung erforderlichen Zeitaufwands allein schon aus Sicherheitsgründen einen entsprechenden Antrag auf Verlängerung der gerichtlicherseits festgesetzten Frist stellen wird.

Ob denn ein unter diesen Umständen „kämpfender“ Sachverständiger sich durch die im Gesetzesentwurf beabsichtigte Heraufsetzung des ihm möglicherweise drohenden Ordnungsgeldes auf das bis zu Fünffache dazu anhalten lässt, das vom Gericht benötigte Gutachten schneller zu erstatten, darf erheblich bezweifelt werden. Was allenfalls damit erreicht werden könnte, wäre die frühzeitige Information des Gerichts von Seiten des Sachverständigen über Umstände, die ihn daran hindern, das Gutachten in der gesetzten Frist zu fertigen. Ob dies allerdings der beabsichtigten Verfahrensbeschleunigung in nennenswerten Rahmen dienlich ist, muss ebenfalls stark bezweifelt werden.

Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige können daher den vom Gesetzgeber beabsichtigten Änderungen entgegensehen, ohne in Unruhe zu verfallen. Diese betreffen Sachgebiete, die ihnen bereits durch die Einhaltung der ihnen im Rahmen ihrer Bestellung durch die Bestellungskörperschaften auferlegten Pflichten geläufig sind.

Dass der Gesetzgeber überhaupt das seit mehr als einem Jahrhundert bestehende System der öffentlichen Bestellung und Vereidigung von Sachverständigen mit dem sich aus der Sachverständigenbestellung ergebenden Pflichtenkatalog in seine Reformüberlegungen mit einbezogen hat, muss bezweifelt werden. Denn wäre dies der Fall gewesen, hätte er bei seinen Vorüberlegungen im Rahmen der vorgelegten Gesetzesänderungen förmlich über die Frage stolpern müssen, ob es denn nicht Sinn machen würde, dieses System der öffentlichen Bestellung und Vereidigung von Sachverständigen auf die in familiengerichtlichen Verfahren hauptsächlich benötigten Begutachtungsbereiche zu übertragen.

Bisher kann jeder Psychologe, Psychiater oder auch Mediziner auf seinem Tätigkeitsgebiet für sich in Anspruch nehmen, Gutachten zu erstatten. Zwar schreibt § 404, Absatz 2 ZPO vor, dass dann, wenn für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt sind, andere Personen nur dann gewählt werden sollen, wenn besondere Umstände es erfordern. Wenn es aber im Bereich psychiatrischer, psychologischer oder medizinischer Gutachten keine öffentlich bestellten Sachverständigen gibt, so läuft diese gesetzliche Vorgabe (bisher) ins Leere.

Vorschläge dazu, ein derartiges Qualitätssicherungssystem bei den genannten Sachverständigendisziplinen unter Einbindung ihrer Berufsverbände und -kammern einzurichten, liegen dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie dem Bundesgesundheitsministerium bereits seit dem Jahre 2014 vor – und wurden auch grundsätzlich von ihnen befürwortet. Warum der Gesetzgeber jetzt zu einem derartigen Gesetzgebungsvorhaben greift, das offensichtlich undifferenziert öffentlich bestellte und nicht bestellte, also zumeist selbst ernannte Sachverständige, betrifft, ist nicht nachvollziehbar. Die von ihm beabsichtigten Ziele einer qualitativen Verbesserung der benötigten Gutachten – gerade in Familiensachen – und eine Beschleunigung von Gerichtsverfahren, in denen Sachverständige Gutachten erstatten, wird er damit leider nicht erreichen.

Quelle NJW 14/2016