Totgesagte leben länger

von Christin Dallmann

Mein Ende steht vor der Tür. Als juristische Übersetzerin wird mein Beruf laut verschiedenster Aussagen in den Medien1 aussterben: Übersetzer wird es in der nahen Zukunft nicht mehr geben. Das zweitälteste2 Gewerbe der Welt: ein Auslaufmodell?

Angesichts der rasanten Entwicklung von Technologien künstlicher Intelligenz in den letzten Jahren wird immer wieder behauptet, dass der Beruf des Übersetzers in der Zukunft obsolet werde, denn diese Arbeit könnten doch nun die Computer erledigen. Auch in der anwaltlichen Praxis gehören verschiedene Übersetzungsprogramme zum täglichen Arbeitsmittel, mit deren Hilfe sich der Rechtsanwalt englische Verträge oder spanische Testamente schnell ins Deutsche übersetzen lässt.

Zunächst ein Hinweis: Die Übersetzungsprogramme (auch „ maschinelle Übersetzung bzw. MÜ“)3 „übersetzen“ den Text nicht. Sie treffen – vereinfacht gesagt – anhand des ihnen zur Verfügung stehenden Datenkonglomerats4 eine Voraussage darüber, welches Wort höchstwahrscheinlich innerhalb einer bestimmten Satzkonstruktion auf ein bestimmtes anderes Wort folgt. Die Maschine „denkt“ nicht selbst, sie berechnet Wahrscheinlichkeiten.

Die Zuverlässigkeit dieser Berechnung hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab, im besonderen Maße von der Qualität des eingespeisten Datenkorpus. Kehlmann5 hat die künstliche Intelligenz einen „Zweitverwerter“ genannt – eine treffende Bezeichnung: Ohne die Daten, also die Arbeitsprodukte von Humanübersetzern, könnte die Maschine gar keine Wahrscheinlichkeit berechnen. Die MÜ hat durch die Entwicklungen beim sogenannten Deep Learning einen enormen Schub bekommen, da die statistischen Berechnungen nun in sogenannten neuronalen Netzwerken durchgeführt werden, in deren Strukturen die Maschine selbst lernt.

Das Vertrauen in diese Technologie kann – besonders im juristischen Zusammenhang – äußerst trügerisch sein.

Erstens: Auf Probleme der Datensicherheit bei vertraulichen Inhalten und sensiblen Daten soll hier nicht weiter eingegangen sein. Die Anwender sollten sich eingehend mit den AGB der Unternehmen beschäftigen, bevor sie mandatsgeheime Unterlagen oder Schriftsätze hochladen.

Zweitens: Die Maschine zerlegt den Text in seine Einzelteile. Um ein Wort zu übersetzen, betrachtet sie die Wörter links und rechts des zu übersetzenden Wortes und vergleicht das Wort in seinem – der Jurist würde sagen – systematischen Zusammenhang. Dafür ignoriert sie bestimmte Wörter oder Wortverbindungen und verändert dadurch Sinnzusammenhänge. Nicht selten werden Wörter wie „nicht“, „kein“ oder Vorsilben wie „un-“ weggelassen und verkehren damit eine Aussage in ihr Gegenteil.

Drittens: Übersetzen ist kein Massenprodukt, es ist das Ergebnis einer geistig-schöpferischen Arbeit, die je nach Einzelfall zu einem anderen Ergebnis kommen kann. Gerade das Übersetzen juristischer Fachtexte ist eine Fertigkeit, die nur wenige Sprachdienstleister gut beherrschen. Der Beruf des Übersetzers ist nicht geschützt. Jeder kann übersetzerische Dienstleistungen anbieten.

Daher ist der Übersetzermarkt sehr heterogen. Auf ihm tummeln sich neben großen und mittleren Sprachdienstleistern freiberufliche Übersetzer und Übersetzernetzwerke mit den unterschiedlichsten oder sogar komplett ohne jegliche Qualifikationen. Für hochwertige Übersetzungen muss der Übersetzer sich in den Rechtssystemen seiner Arbeitssprachen sehr gut auskennen und gleichzeitig über linguistisches und translatorisches Wissen verfügen. Solche Übersetzer sind am Markt rar gesät.

Es stellt sich also die Frage, auf Basis welcher Übersetzerdaten die Maschine ihre Übersetzungsentscheidungen trifft. Welche der möglichen Qualifikationen und Kompetenzen hatten und haben die Humanübersetzer, auf deren Arbeitsprodukte sich die MÜ bei ihrer Vorhersage stützt?

Viertens: Selbst, wenn der Datenkorpus ausschließlich aus hochwertigen Übersetzungen stammt, unterscheiden sich die Ausgangstexte. Zwar besteht ein Strafbefehl aus ähnlichen Formulierungen und es lassen sich auch Verträge finden, deren Klauseln sogar deckungsgleich formuliert sind. Doch in der Regel sind juristische Schriften – ob anwaltliche Schriftsätze, Urteile, Bescheide oder Gutachten – Ergebnisse der geistig-schöpferischen Tätigkeit eines bestimmten Juristen, der in den Ausgangstext sein Wissen, seine Kenntnisse, seinen Stil einfließen lassen hat.

Fünftens: Juristische Texte dienen in der Regel einem bestimmten Zweck. Je nach seiner Funktion wird ein guter Übersetzer denselben Ausgangstext unterschiedlich übersetzen. Bei einem unterschriebenen Vertrag übersetze ich sehr wörtlich und mit vielen Anmerkungen, um den Leser auf Zweideutigkeiten, Systemunterschiede usw. hinzuweisen. Bei einem Vertragsentwurf hingegen, der für einen Mandanten ins Englische vor Unterzeichnung übersetzt wird, kann ich meinen Kunden (den Rechtsanwalt) auf bestimmte Zweideutigkeiten, Unregelmäßigkeiten usw. hinweisen und diese nach dessen Wunsch formulieren.

Auch andere Faktoren spielen in die Übersetzung hinein: Soll der Text für einen britischen Zielleser, einen amerikanischen oder gar einem internationalen Leser übersetzt werden? Davon hängt ab, ob ich für das deutsche Wort „Kläger“ „plaintiff“ oder „claimant“ verwende. Die Kriterien, die in eine Übersetzung einfließen, sind zahlreich: Muttersprache und Bildungsstand des Ziellesers, insbesondere sein Hintergrundwissen zum Rechtssystem, Verwendungszweck der Übersetzung usw.

Und die Maschine? Weiß davon nichts, stellt ihre übersetzerischen Wahrscheinlichkeitsberechnungen an, losgelöst vom Einzelfall.

Fazit

Die Herrenschneider in der Savile Row in London: Seit dem 19. Jahrhundert fertigen die dort ansässigen Schneider Anzüge für Herren, die Wert auf hervorragende Verarbeitung, auf Handwerkskunst und Können legen, die einen Anzug tragen möchten, der genau Ihnen passt und steht. Die Schneider haben die Entstehung der Warenhäuser und die Verlegung der Produktion auf andere Kontinente zu günstigeren Bedingungen überlebt.

Daher: Diejenigen Sprachdienstleister, die Übersetzungskunst und Fertigkeit und Erfahrung bieten, die die Texte, Schriftsätze und Korrespondenz ihrer Kunden maßgeschneidert in eine andere Sprache übertragen, wird es trotz maschineller „Konkurrenz“ weiterhin geben.

 

Über die Autorin:

Christin Dallmann
studierte Rechtswissenschaft und Englisches
Recht an der Humboldt-Universität zu
Berlin und schloss ihr Studium mit dem
Ersten Staatsexamen ab. Der fachlichen
Ausbildung im juristischen Bereich folgte ein Studium der
Translatologie im Fachbereich Recht (Legal Translation) am
Sprachen und Dolmetscher Institut München und an der City
University London, das sie mit einem M. A. abschloss. Sie arbeitet
seit 2011 als freiberufliche Rechtsübersetzerin (Lawyer-Linguist).

 

Fußnoten:

1) Finanztip-Video auf Basis der Daten von Focus: https://www.youtube.com/watch? v=ifEC02a43G4. Zuletzt abgerufen am 09.03. 2022; Lars Klingbeil in der Talkshow „Anne Will“ am 25.11. 2018.

2) Nach dem Beruf des Gärtners ist laut der Bibel die linguistische die zweitälteste Tätigkeit, 1. Buch Moses 2.19.

3) Computer und Sprache sind seit langem verknüpft. Erste technikgestützte Spracherkennung basiert auf den codeentziffernden Techniken aus den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert. Als Grundlagendokument für die maschinelle Übersetzung wird das „Memorandum on Translation“ von Warren Weaver aus dem Jahr 1949 angesehen. Auch Weaver stützt sich bereits auf eine falsche Prämisse: Sprachen seien im Grunde gleich aufgebaut. Auch er vergisst, dass Sprachstruktur und Semantik nicht voneinander getrennt werden können. Er hat jedoch bereits erkannt, dass der Computer wohl nur ein „unelegantes Ergebnis“ liefern würde. Weaver hat darin außerdem bereits erkannt, dass maschinelles Übersetzen nur in Fachgebieten funktionieren würde, in denen jedes Wort nur eine einzige Bedeutung hat und mit keinerlei Emotion verknüpft ist.

4) Die Entwickler der Programme sprechen von „Datenkorpus“. Inwieweit dieser Korpus allerdings tatsächlich aus einem sinnvollen Gebilde besteht und inwieweit wahllos Texte und deren Übersetzungen eingespeist werden, bleibt ein Geheimnis der Programmierer.

5) In seinem sehr lesenswerten, kurzweiligen Buch zur KI: Daniel Kehlmann,
Mein Algorithmus und Ich, Klett-Cotta, Stuttgart 2021.

6) Auf das Problem der unperfekten Ausgangstexte kann hier nicht weiter eingegangen werden. Nach langjähriger Erfahrung mit Texten von Richtern, Staatsanwälten, Notaren und Anwälten kann ich berichten, dass kein Text ohne Fehler (Wortauslassungen, falsche logische Bezüge, Nichtverwendung von definierten Begriffen usw.) ist.