Hongkong und das Coronavirus
Stefan Neuhöfer
Rechtsreferendar

„Hongkong? Wirklich? Was ist mit den Protesten?“ Dies waren wahrscheinlich die häufigsten Fragen, die mir meine Freunde stellten, als die Wahlstation näher rückte. Es kam allerdings ganz anders. Während meiner Zeit in der Sonderverwaltungszone stand die Welt vor ganz neuen Herausforderungen. Aber von Anfang an.
Mein Studium und Referendariat absolvierte ich in Bayreuth. Zwischendurch ging ich für den LL.M. nach Schottland. In Glasgow entwickelte ich ein großes Interesse am Bereich Finance. Schon zuvor war ich viel in aller Welt unterwegs gewesen (zum Beispiel in Kolumbien, um Spanisch zu lernen). Und so dachte ich mir zu Beginn des Referendariats, es könnte doch spannend sein, Hongkong als weltweites Finanzzentrum neben London und New York kennenzulernen. Gleich zu Beginn des Referendariats lernte ich bei e-fellows „Perspektive Wirtschaftskanzlei“ einige Kanzleien kennen und führte unter anderem ein interessantes Gespräch mit Kirkland & Ellis in München. So kam es, dass wir uns bereits 2018 auf die Wahlstation 2020 bei Kirkland in Hongkong im Bereich Restructuring einigten. Ein Tipp: Es sei jedem empfohlen, sich bereits frühzeitig um die begehrten Auslandsplätze zu kümmern, da die Formalitäten länger als erwartet dauern können und der organisatorische Aufwand für die Kanzlei immens ist. Relativ zeitig nach der letzten schriftlichen Prüfung, bereits eine Woche nach der Klausur im Steuerrecht, begann ich meine Tätigkeit als Referendar bei Kirkland & Ellis in München und verbrachte dort einige Wochen, bis es dann am 18. Januar auf nach Hongkong ging.
Bereits im Voraus hatte mir die Kanzlei bei allen administrativen und organisatorischen Fragen zur Seite gestanden. Das ist keine Selbstverständlichkeit (ich spreche dabei aus Erfahrungen meiner Freunde), ist aber in den anstrengenden Wochen unmittelbar vor den schriftlichen Prüfungen eine ungemeine Hilfe, wenn man sich neben dem Stoff nicht auch noch um Wohnung, Krankenversicherung, Visa etc. kümmern muss.
Angekommen in Hongkong machte ich mich direkt auf, die Kolleg:innen im Restructuring-Team von Kirkland kennenzulernen. Mir fiel besonders der bunte Mix an Nationalitäten im etwa fünfzehnköpfigen Team auf. Die Kolleg:innen haben Wurzeln aus China, Australien, England, Kanada und den USA. Wahre Internationalität in der Großkanzlei! Mir hat das sehr gefallen, da die Lernkurve in kultureller und persönlicher Hinsicht naturgemäß bei einer solchen Vielzahl verschiedener Charaktere besonders steil ist.
Etwa eine Woche nach meiner Ankunft brach dann das Coronavirus aus. Die Folge war absoluter Stillstand in der ganzen Stadt. Alle öffentlichen Veranstaltungen wurden sofort abgesagt, die U-Bahn war von heute auf morgen völlig leer, ebenso Geschäfte und die Straßen. Auch im Büro war nur noch eine Handvoll Kolleg:innen. Der gesamte chinesische Markt brach völlig ein. Einerseits hatte das zur Folge, dass ich beim Sightseeing ungestört war und die großen Attraktionen „exklusiv“ besuchen konnte. Andererseits war es ein etwas seltsames Gefühl, in einer sonst so turbulenten und vollen Stadt wie Hongkong plötzlich „allein“ unterwegs zu sein. Die Unterstützung aus beiden Büros - München und Hongkong - war in dieser Zeit ganz hervorragend. Fast jeden Tag kamen Kolleg:innen auf mich zu und fragten, ob ich ausreichend mit allem versorgt sei. Mir wurde sogar angeboten, vorzeitig nach München zurückzukehren (was einige andere Referendar:innen in den deutschen Institutionen taten), was ich aber dankend ablehnte.
Trotz des Coronavirus fiel auch Arbeit an. Für das Restructuring-Team führte das Virus nach einem kurzen Durchhänger sogar zu einer Vielzahl neuer Mandate. Die Arbeitsweise mit chinesischen Mandant:innen ist dezidiert anders als in Europa. Verhandlungen über WeChat stehen hier an der Tagesordnung. Auch die Beziehungspflege mit den Mandant:innen verläuft persönlicher. Einer der hiesigen Partner nahm mich zu einem Mandantentreffen mit, bei dem alle bester Laune waren und wo durchaus auch über Privates geredet wurde. Persönliche Beziehungen spielen in diesem Teil der Welt eine noch viel größere Rolle als zuhause in Europa.
Die Transaktionsarbeit hingegen entspricht im Wesentlichen dem, was man auch in Europa erlebt. Unmengen an Dokumenten, verschiedene Jurisdiktionen und teilweise unübersichtlicher E-Mail-Verkehr. Leider waren die meisten Termine des High Court ausgesetzt, sodass ich die Kolleg:innen aus dem Litigation nicht begleiten konnte. Aber auch hier sind die Fälle aufgrund der chinesischen Eigenarten (und des teilweise aus europäischer Sicht verrückten Verhaltens der Parteien) sehr spannend. Teilweise ist es für Europäer:innen ein kleiner Kulturschock. Aber gerade, um eine andere Welt kennenzulernen, ist die Wahlstation besonders gut geeignet.
Mein Fazit: Entgegen der ursprünglichen Vermutung stellten die Proteste während meiner Zeit in Hongkong kein großes Problem dar. Alles wurde durch das Coronavirus überlagert. Es war eine intensive Zeit, auf die ich uneingeschränkt positiv zurückschaue. Mein Tipp: Kümmert euch frühzeitig um die Auslandsstation und wählt eine Kanzlei, die euch bei den organisatorischen Angelegenheiten unterstützt. Dann habt ihr freie Fahrt, die Zeit im Ausland wirklich zu genießen.